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Description: Ulrich Gebhard Zur Bedeutung von Naturerfahrungen von Kindern in der Stadt © F??? Zur Bedeutung von Naturerfahrungen von Kindern in der Stadt Ulrich Gebhard Städtischer Freiraum kann als Ausdruck des kulturell und sozial bedingten Naturverständnisses interpretiert werden. Ob und wie viel naturnahe Freiräume sich eine Gesellschaft auch in der Stadt gewissermaßen „leistet“, ist zumindest ein Indikator auch für die Wertschätzung von Natur im Vergleich zu anderen Nutzungsinteressen von Freiflächen. In diesem Vortrag wird die besondere Bedeutung von naturnahen Freiflächen für die Entwicklung von Kindern beleuchtet. 1 Stadtnatur und Kinder Bereits in den dreißiger Jahren des vergan- genen Jahrhunderts hat Martha Muchow die Bedeutung des naturnahen Spielraums, über- haupt des „Nahraums“ vor dem Hintergrund ethnographischer Studien betont. Sie vertrat die Ansicht, „dass man, um sich mit dem Kin- de verständigen zu können, nicht nur wissen (muss), wie das Kind in der Welt lebt, sondern man muss auch wissen, in welcher Welt es lebt“ (Muchow 1932, S. 391). Wir wissen durch eine Vielzahl von sozialwis- senschaftlichen Studien, dass sich die Kindheit in den letzten Jahrzehnten dramatisch verän- dert hat. Einige Stichworte seien in aller Kürze genannt: Die Spielräume von Kindern verlagern sich in den Wohnraum („Verhäuslichung“), die 146 Orte und v.a. Termine von Kindern sind oft weit voneinander entfernt („Verinselung“), es gibt bereits bei Grundschulkindern einen Termin- stress, das Kinderspiel ist reglementiert und kontrolliert. Straßenspiel ist selten geworden und damit geht auch Verlust an Geheimnissen einher. Angesichts dieser Situation ist der Ruf nach sogenannten „Naturerfahrungsräumen“ in der Stadt nicht erst in letzter Zeit zu verneh- men. Der zentrale Gedanke dabei ist, dass derartige Naturerfahrungsräume für die kind- liche Entwicklung ein günstiges Gegenge- wicht angesichts der „veränderten Kindheit“ darstellen. „Ein Städtischer Naturerfahrungs- raum (NERaum) ist eine weitgehend ihrer natürlichen Entwicklung überlassene, mindes- tens ein Hektar große „wilde“ Fläche im Woh- numfeld, auf der ältere Kinder und Jugendliche frei – ohne pädagogische Betreuung und ohne Geräte – spielen können“ (Schemel 2009, 80). Wie wir wissen, hat sich dieses Konzept noch nicht in hinreichendem Maße realisie- ren lassen. In diesem Zusammenhang sind vor allem drei Herausforderungen zu nennen. Erstens müssen dafür geeignete Freiflächen vorhanden sein bzw. bereitgestellt werden. Zweitens werden damit verbundene Risiken in aller Regel überschätzt. Und drittens gibt es zur Frage der Betreuung noch kontroverse Diskussionen – uns zwar sowohl hinsichtlich der Kinder als auch hinsichtlich der Naturer- fahrungsräume selbst. Im Folgenden sollen nun die psychologischen Hintergründe für dieses Freiraumkonzept be- leuchtet werden. Damit verbunden ist auch die Frage, wie Kindern die positiven Wirkungen von Naturerfahrungen zur Verfügung gestellt werden können und v.a., ob sie das überhaupt wollen. Denn natürlich soll durch zusätzliche Zeit in der Natur nicht noch zusätzlicher Ter- mindruck und Stress aufgebaut werden. Als gleichsam vorweggenommenes Resümee seien einleitend vier wesentliche Vorteile von Naturerfahrungsräumen in der Stadt thesen- haft formuliert: 1. Naturnahe Freiräume in der Stadt sind wir- ken sich in der Tat günstig auf die psychi- sche, soziale und somatische Entwicklung von Kindern aus. 2. Naturnahe Freiräume in der Stadt sind ein Element des Naturschutzes (z.B. Biodiver- sität). 3. Naturnahe Freiräume in der Stadt sind günstig für das Stadtklima. (z.B. Luftqua- lität, Lärmsenkung). 4. Naturnahe Freiräume in der Stadt sind auch für Erwachsenen gut. Mit der Etablierung von naturfreien Freiflächen lassen sich also gleichsam vier Fliegen mit ei- nem Streich schlagen, wobei in diesem Artikel v.a. der erste Punkt vertiefend behandelt wird. 2 Was ist an Naturerfahrungen gut für die psychische Entwicklung (von Kindern)? Es geht hier um die Frage, in welcher Weise äu- ßere Natur nicht nur biologisch-materiell, son- dern auch psychisch wirksam ist (s. ausführlich Gebhard 2009). Mitscherlich äußerte bereits in den 60er Jahren die Vermutung, dass eine be- sondere Entfremdung von „Natur“ - wie in den „unwirtlichen Städten“ - soziale und psychische Defizite hervorrufe und dass das besonders bei der Entwicklung von Kindern sichtbar wer- de. Danach „braucht“ das Kind seinesgleichen -“nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Was- ser, Dreck, Gebüsche, Spielraum“ (Mitscherlich 1965, 24). Relativ eindeutig werden hier gleich- sam menschliche Grundbedürfnisse behauptet. Die Frage allerdings, was der Mensch für eine Umwelt braucht, welche Qualität und wieviel 147 Ulrich Gebhard Zur Bedeutung von Naturerfahrungen von Kindern in der Stadt Natur, ist schwierig. Zu sehr hat sich die tra- ditionelle Psychologie auf die Beziehung des Menschen zu anderen Menschen konzentriert. Die Persönlichkeit des Menschen wird so in den meisten psychologischen Schulen als das Ergebnis der Beziehung zu sich selbst und der Beziehung zu anderen Menschen verstanden. In der Persönlichkeitsstruktur verdichten sich danach die Erfahrungen mit sich selbst und den anderen Menschen; die nichtmenschliche Umwelt (also Gegenstände, Pflanzen, Tiere, Natur, Landschaft, Bauten) spielt in einem sol- chen, gleichsam zweidimensionalen Persön- lichkeitsmodell nur eine untergeordnete Rolle. Die Erfahrungen z. B., die Kinder in den ersten Lebensjahren mit vertrauten Bezugspersonen machen, bestimmen wesentlich die Persönlich- keit und auch, mit welcher Tönung und Qualität die Welt wahrgenommen wird. Erikson (1968) hat dafür den Begriff „Urvertrauen“ eingeführt. Die Frage ist nun, ob und in welcher Weise die dingliche und natürliche Umwelt etwas Analoges zu dem, was Erikson „Urvertrauen“ genannt hat, bedingen könnte. Dabei ist auch zu bedenken, dass das menschliche Verhält- nis zur Umwelt und zur lebendigen Natur in weiten Teilen unbewusst ist (Gebhard 2013, S. 14ff.; Searles 1960). Welche Bedeutung die Na- tur für die psychische Entwicklung hat, ist eine grundlegende wissenschaftliche Fragestellung, die die Stellung des Menschen in und zu der Natur auch psychologisch wendet. Außerdem ist dieser Komplex auch von praktischer Be- deutung, auch, aber nicht nur im Hinblick auf die Gesundheit. Die Frage nach „Naturbedürf- nissen“ ist z.B. bedeutsam für den Städtebau, die Landschaftsplanung, die Architektur von öffentlichen wie privaten Gebäuden. Sie ist auch bedeutsam für unseren Umgang mit der Natur: Natur- und Landschaftsschutz. Es ist letztlich die Frage, wie sich äußere Natur in der inneren Natur des Menschen repräsentiert und was das für jeweilige Folgen hat. Das erinnert an der Vorstellung A. von Humboldts, der bei der Naturforschung „nicht bei den äußeren Erscheinungen allein verweilen“, sondern die Natur auch so erforschen wollte, „wie sie sich im Inneren der Menschen abspiegelt“. 148 In zahlreichen Untersuchungen zur Kleinkin- dentwicklung wird hervorgehoben, wie wichtig eine vielfältige Reizumgebung ist. Neben dem Einfluss auf die Gehirnentwicklung trägt eine reizvielfältige Umwelt dazu bei, psychische Ent- wicklungsschritte anzuregen und zu för¬dern. Es ist so, dass eine reizarme und auch eine reiz- homogene Umwelt sich in mehrfacher Weise negativ auswirkt. Das Optimum liegt zwischen homogenen, immer gleichen, vertrauten Rei¬- zen einerseits und sehr neuen und fremdarti- gen Reizen andererseits. Eine naturnahe Umge- bung, in der sowohl relative Kontinuität als auch ständiger Wandel besteht, ist ein sehr gutes Beispiel für eine derartige Reizumwelt, die eine Mittelstellung zwischen neu und vertraut ein- nimmt. Eine solche „reizvolle“ Umgebung lädt ein zur Exploration, zur Erkundung, weil sie neu und interessant ist und eben zugleich vertraut. Dem Bedürfnis nach aktiver Orientierung kann man am besten nachgehen in einem Zustand relativer Sicherheit und Geborgenheit. In Groß- städten gibt es zunehmend die paradoxe Situa- tion, dass Kinder sowohl zu schwach als auch zu stark gereizt sind. Einerseits fehlt häufig eine reizvolle Spielumwelt, andererseits kann man von einer Überreizung in der Stadt sprechen, die auch häufig zu nervösen Symptomen führt. Mit Berlyne (1969) könnte man das Kinderspiel in der Natur als ”unspezifische Exploration” bezeichnen, eine Tätigkeit, die die Neuigkeit der Umgebung als Anlass zu explorativer Aktivität nimmt und damit zugleich Sicherheit und Ver- trautheit herstellt. Natürliche Strukturen haben eine Viel¬zahl von Eigenschaften, die für die psychische Entwick- lung gut sind: Die Natur verändert sich ständig und bietet zugleich Kontinuität. Sie ist immer wieder neu (z.B. im Wechsel der Jahreszei¬ten) und doch bietet sie die Erfahrung von Verläss- lichkeit und Sicherheit: Der Baum im Garten überdauert die Zeitläufe der Kindheit und steht so für Kontinuität. Die Vielfalt der Formen, Materialien und Farben regt die Phantasie an, sich mit der Welt und auch mit sich selbst zu befassen. Das Herumstreunen in Wiesen und 149 Ulrich Gebhard Zur Bedeutung von Naturerfahrungen von Kindern in der Stadt Wäldern, in sonst ungenutzten Freiräumen kann Sehnsüchte nach „Wildnis“ und Aben- teuer befriedigen. Auch in der Anthropologie geht man davon aus, dass es beim Menschen sowohl einen grundlegenden Wunsch nach Bindung und Vertrautheit als auch ein ebenso grundlegendes Neugierverhalten gibt.tivierende Bedeutung von Natur hat dann et- was mit Wohlbefinden, Glück und sinnhaftem Leben zu tun. Dabei geht es um die symboli- sche Bedeutung von Natur, in der Erlebnisse in und mit der Natur und deren sinnstiftende Valenz zusammenfließen, ein wichtiger Aspekt von Naturerfahrungen. Ein wesentlicher Wert von Naturerfahrungen besteht in der Freiheit, die sie vermitteln (kön- nen). „Wir sind so gern in der Natur, weil diese keine Meinung über uns hat“, sagt Nietzsche. So müsste es (nicht nur für Kinder) mehr „frei- en“ ungeplanten Raum in den Städten geben. Erst relative Freizügigkeit ermöglicht es, sich die Natur wahrhaft anzueignen. Es ereignet sich die Wirkung von Natur nämlich nebenbei. Der Naturraum wird als bedeutsam erlebt, in dem man eigene Bedürfnisse erfüllen, in dem man eigene Phantasien und Träume schwei- fen lassen kann und der auf diese Weise eine persönliche Bedeutung bekommt. In dieser Hinsicht kann Naturerfahrung auch sinn- und identitätsstiftend sein. Die persönliche, subjek-3 Naturerfahrung und Gesundheit Die günstigen Wirkungen von Naturerfahrun- gen werfen immer häufiger die Frage auf, ob eine Entfremdung von Natur sich in psychi- scher und somatischer Hinsicht negativ aus- wirkt, also krank macht. Bei Kindern wird sogar schon von einen „Nature Deficit Syndrom“ (NDS) gesprochen (Louv 2005, Taylor u.a. 2001). Ich verfolge hier die umgekehrte Logik, nämlich dass die Möglichkeit oder geradezu das Angebot von Naturerfahrungen auch ein Beitrag zur Gesundheitserhaltung sein kann. So gibt es seit einiger Zeit nicht nur therapeu- tische Angebote mit Tieren, sondern auch ent- sprechende Versuche mit Pflanzen und Gärten. Das Konzept der „Therapeutischen Landschaf- ten“ (Gebhard/Kistemann 2016) betont dabei v.a. die symbolische und kulturelle Bedeutungs- erzeugung durch Natur. Die empirischen Befunde zur belebenden und gesundheitsfördernden Wirkung von Natur sind vielfältig, und Gesundheitsargumente werden bei politischen Entscheidungen im Hinblick auf die Stadt- und Landschaftspla- nung immer wichtiger. Naturräume mit Wie- sen, Feldern, Bäumen und Wäldern haben eine belebende Wirkung bzw. bewirken eine Erholung von geistiger Müdigkeit und Stress. Der Zusammenhang von Naturerfahrungen und Gesundheit wird häufig mit evolutionären Annahmen in Verbindung gebracht, wonach eine Präferierung von naturnahen Umwelten und vor allem entsprechende Wirkungen von Natur auf die seelische und körperliche Befind- lichkeit mit biologisch fundierten Dispositionen zusammenhänge („Biophilie“). Nach der „At- tention Restoration Theory“ von Kaplan/Kaplan (1989) wirken sich Naturräume deshalb güns- tig auf die Gesundheit, weil sie einen Abstand zum Alltagsleben bzw. Alltagstrott ermöglichen und weil Naturerfahrungen Aufmerksamkeit provozieren, die nicht anstrengt. Auf die Bedeu- tung der symbolischen Valenzen unserer Na- turbeziehungen werde ich im letzten Abschnitt noch genauer eingehen. Soziale Gesundheit Integration, Förderung der psychosozialen Ent- wicklung Eine Vielzahl von empirischen Befunden zeigt die günstige Wirkung von Naturerfahrungen für die Gesundheit. Belege gibt es hinsichtlich folgender Aspekte:Vor allem die Natur in der unmittelbaren Wohnumgebung beeinflusst die Gesundheit. Menschen, die in Gegenden mit einem hohen Grünanteil leben, beurteilen ihre physische und mentale Gesundheit höher als Menschen in ei- ner Umgebung mit wenig Grünflächen. Physische Gesundheit4 Herzkrankheiten, Diabetes, Rückenbeschwer- den, Übergewicht, Blutdruck, Schlaganfall, Motorische Entwicklung bei Kindern, v.a. Grob- motorik Psychische Gesundheit Stress, Erholung von geistiger Müdigkeit, kog- nitive Entwicklung, Konzentration, Induzierung 150 positiver Gefühle (Freundlichkeit, Interessiert- heit, Ruhe, Zufriedenheit), Abbau von Ärger und Frustration, kontemplative Stimmung, Kreativität, Vergessen von Sorgen, bessere Bewältigung von bedeutsamen Lebensaufga- ben, Selbstwertgefühl, Symptomminderung von chronischen Aufmerksamkeitsstörungen (ADD) Präferenzen von Kindern und Jugendlichen Angesichts der inzwischen gut belegten Befun- de zu den positiven Wirkungen von Naturer- fahrungen für Kinder stellt sich angesichts der viel beklagten Medialisierung der modernen Kindheit die Frage, ob Kinder und Jugendli- che überhaupt in die Natur gehen wollen. Die Präferenzforschung gibt hier verhältnismäßig klare Antworten: Bei Kindern läst sich trotz 151

Types:

Origin: /Land/Baden-Württemberg/LUBW

Tags: Wohnung ? Raumentwicklung ? Baum ? Landschaftsplanung ? Wiese ? Wohlbefinden ? Architektur ? Gebäude ? Kind ? Sozialpsychologie ? Stadtklima ? Stress ? Landschaftswandel ? Erwachsener ? Jugendlicher ? Anthropologie ? Freifläche ? Landschaftsschutz ? Sozialforschung ? Studie ? Schule ? Pflanze ? Wildnis ? Naturerlebnisraum ? Kindergesundheit ? Städtebau ? Wald ? Naturschutz ? Naturerlebnis ?

Region: Baden-Württemberg

Bounding boxes: 7.511871829775875° .. 10.49574877933999° x 47.53236022056467° .. 49.79147764980276°

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