Description: Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt 39 (2004) Rote Liste der Köcherfliegen (Tricho- ptera) des Landes Sachsen-Anhalt Bearbeitet von Mathias HOHMANN unter Mitarbeit von Friedemann GOHR, Martina JÄHRLING, Wolfgang KLEINSTEUBER und Lutz TAPPENBECK (2. Fassung, Stand: Februar 2004) Einführung Die Köcherfliegen oder Trichoptera sind eine vergleichsweise kleine Gruppe merolimnischer Insekten. Weltweit sind bisher etwa 10.500 Arten beschrieben worden, in Europa ist mit ungefähr 1.000 Arten zu rechnen (BOTOSANEANU & MALICKY 1978), und aus dem Bundesgebiet sind gegen- wärtig 315 Köcherfliegen-Arten bekannt. 313 Ar- ten sind im letzten deutschen Verzeichnis (ROBERT 2001) aufgelistet, neu hinzu kommen noch Ste- nophylax mucronatus MCLACHLAN, 1880 und Ithy- trichia clavata MORTON, 1905 (NEU 2002, BERLIN in Vorb.). Die Trichoptera-Larven leben (bis auf wenige Aus- nahmen) aquatisch, die Imagines bewohnen ter- restrische Habitate. Ihre Entwicklung ist holome- tabol, d.h. nach dem Ei- und Larvenstadium folgt ein Zeitraum der Verpuppung, erst dann schlüpft die Imago. Dieser Zyklus dauert bei den meisten Arten etwa ein Jahr. Die Vertreter dieser Ordnung besiedeln nahezu alle limnischen Biotoptypen (Quellen, Bäche, Flüsse, Tümpel, Teiche, Seen, Moore, temporäre Gewässer, hygropetrische Zo- nen), einzelne Arten sind auch im Brackwasser und/oder marinen Lebensräumen zu finden. Aus der Vielzahl bewohnter Biotope, weitgehend ge- klärter Taxonomie und der guten Kenntnis der Ökologie zahlreicher Arten ergibt sich die hervor- ragende Eignung der Gruppe für angewandte Fra- gestellungen, wie der Zustandsbeschreibung und Bewertung von Gewässern! Für die Köcherfliegen namensgebend ist das cha- rakteristische Gehäuse (Köcher), das die Lar- ven vieler Arten aus unterschiedlichsten Materia- lien bauen. So sind Konstruktionen aus Gespinst, Pflanzenteilen, Sandkörnern, Kies, Blattstückchen und Teilen von Holz und Wurzeln bekannt. Diese transportablen Köcher, denen vorrangig eine Schutzfunktion zukommt, sind sehr unterschied- lich geformt. Es können lange Röhren, quadrati- sche oder dreieckige Querschnitte, kurze, gedrun- gene Ausprägungen oder Köcher mit flügelartigen Verbreiterungen auftreten. Andere Arten, vor al- lem Bewohner von Fließgewässern, bauen keine derartigen Köcher. Sie leben entweder frei beweg- lich auf der Gewässersohle, bewohnen Gespinst- galerien oder bauen ortsfeste Gehäuse, häufig in Kombination mit Fangnetzen, die zum Nahrungs- erwerb dienen. Auch bei den Ernährungstypen lassen sich nach WICHARD (1988) verschiedene, spezialisierte Gruppen unterscheiden: Zerkleine- rer (kauen lebendes und zersetztes Pflanzenge- webe), Sammler (Filtrierer und Sediment-/Detri- tusfresser), Weidegänger (bürsten und kratzen den Algenaufwuchs von Substraten ab) und Räu- ber (ergreifen lebende Beutetiere). In einigen Li- teraturquellen (z.B. SOLEM & GULLEFORS 1996) wird auf einen 5. Typ, die Zellstecher (die einzelne Al- genzellen aufbeißen und aussaugen), hingewie- sen. Die Larven der Köcherfliegen sind somit in das Nahrungsnetz eingebunden und nehmen an dem Abbau von autochthonen und allochthonen Materialien teil. Die Imagines, deren Größe zwischen etwa 2 mm (Hydroptilidae) und 60 mm (Phryganeidae) schwankt, sind weitgehend durch eine unschein- bare gelbe und braune Farbgebung gekennzeich- net. Das hat sie vermutlich für viele Sammler nicht sehr attraktiv gemacht. Bunte Flügelzeichnungen, wie bei einigen Phryganeidae und Limnephilidae, sind somit eher die Ausnahme. Die erwachsenen Tiere, deren Hauptflugzeit in Mitteleuropa auf die Monate Mai bis Oktober entfällt, besitzen ein gut ausgeprägtes Flugvermögen. Einige Arten kön- nen regelmäßig sehr weit entfernt von ihren Ent- wicklungsgewässern, z.B. in Höhlen, angetroffen werden. Ausnahmsweise finden sich auch brachy- ptere Individuen, wie die Männchen von Anomalo- pterygella chauviniana (STEIN , 1874) oder die Weibchen der Gattung Enoicyla. Im Gegensatz zu den Larven nehmen die adulten Trichoptera nur in eingeschränktem Umfang Nahrung auf. So ist bekannt, dass die Tiere häufig Wasser sau- gen, aber vereinzelt auch an Blumen, beim Le- cken von Blattlaus-Honigtau und an süßen Früch- ten beobachtet worden sind (vgl. MALICKY 1973). Viele Imagines werden, wie auch andere Insek- ten, von künstlichen Lichtquellen angelockt, was man sich bei der Aufsammlung von Trichoptera zu Nutze machen kann. Nähere Angaben zur Anflugdistanz und Fallenfangbarkeit sind z.B. der Arbeit von MALICKY (1987) zu entnehmen. Ausführ- liche Darstellungen zu verschiedenen Aspekten der Biologie und Ökologie u.a. finden sich bei MALICKY (1973), WICHARD (1988), WARINGER & GRAF (1997); Interessierten können diese Arbeiten un- eingeschränkt empfohlen werden. Datengrundlagen Zusammenfassende faunistische Trichoptera- Daten für Sachsen-Anhalt sind von MEY (1980), der 143 Arten - hier noch für die Bezirke Halle und Magdeburg - aufführt, KLIMA et al. (1994) - 167 Arten - und von ROBERT (2001) - 184 Arten - veröffentlicht worden. Diese Arbeiten dokumen- tieren einen beständigen Wissenszuwachs, was # terer Erkenntnisgewinn könnte sich aus der Revi- sion bestehender Sammlungen von Privatperso- nen und Museen ergeben. Die hier vorgenommene Gefährdungseinschät- zung berücksichtigt insbesondere den chronolo- gischen Vergleich von Fundmeldungen, die aut- ökologischen Ansprüche der einzelnen Arten und weiterhin die Gefährdung bestimmter Biotoptypen, z.B. von Moorgewässern (RIECKEN et al. 1994). Als ausgestorben oder verschollen werden alle Arten angesehen, von denen seit mehr als 25 Jahren keine Nachweise vorliegen. Wie bei der vorheri- gen Fassung (REUSCH & BLANKE 1993) wird bei der Gefährdungsbeurteilung im Landesgebiet konse- quent nach Nordeutschem Tiefland und Hügel- und Bergland (zentrale Mittelgebirge mit vorgela- gerten Gebieten) unterschieden. Eine graphische Darstellung der Abgrenzung ist Abb. 1 zu entneh- men, weitere Informationen finden sich bei HOH- MANN & BÖHME (1999). Abb. 1: Landschaftsgliederung Sachsen-Anhalt. auf die deutlich bessere Erforschung der Gruppe in den letzten 20 Jahren zurückgeht. Seit der Publikation von ROBERT (2001) gelangen 19 weitere Neufunde (REUSCH et al. 2001, HOHMANN 2002, in Vorb., BRETTFELD schr. Mitt. 2003, JÄHRLING schr. Mitt. 2003), so dass aktuell 202 Köcherflie- gen-Arten (Tiefland: 142, Hügel- und Bergland: 175) aus Sachsen-Anhalt bekannt sind. Diese Anzahl ergibt sich aus den Erstnachweisen und der Strei- chung von Diplectrona felix (s.u.). Damit ist die Er- forschung der einheimischen Köcherfliegen-Fau- na noch längst nicht abgeschlossen, Neufunde sind nach wie vor in allen Landesteilen und Biotopty- pen zu erwarten. Insgesamt dürften 210 bis 220 Arten in Sachsen-Anhalt vorkommen (HOHMANN 2002). Trotz des enormen Erkenntniszugewinns der letzten Jahre sind die Trichoptera immer noch eine unzureichend bearbeitete Gruppe. Vorliegende Rote Liste kann daher nur den derzeitigen Wissens- stand widerspiegeln, weitere Untersuchungen sind dringend erforderlich. Wichtigste Datengrundlage zur Erstellung dieser Roten Liste sind die mehrjährigen, dienstlichen Aufsammlungen aller Bearbeiter im Rahmen des Gewässerüberwachungsprogramms (GÜSA) des Landes Sachsen-Anhalt. Bei zahlreichen privaten Exkursionen des Autors im Fläming, der Dübener Heide und im Harz sind umfangreiche Informatio- nen zusammengetragen worden, die hier mit be- rücksichtigt werden. Zur Auswertung gelangten weiterhin etwa 60 Veröffentlichungen, die zumindest teilweise Trichoptera-Daten enthielten. Aus brieflichen Mitteilungen verschiedener Kolle- gen ergaben sich ergänzende Befunde; ein wei- $ Die Bestimmungssicherheit von Köcherfliegen-Lar- ven und adulten Tieren ist sehr unterschiedlich. Die Imagines lassen sich (mit Ausnahme der Weibchen einiger Gattungen) unter Verwendung unten ge- nannter taxonomischer Literatur sicher nach geni- talmorphologischen Kriterien unterscheiden. Dem gegenüber sind nach PITSCH (1993) nur ein Drittel der mitteleuropäischen Arten im Larven-Stadium sicher bestimmbar. Eine vergleichsweise gute Zu- ordnung ist noch für Fließgewässer bewohnende Arten möglich, größere Probleme bestehen bei Fa- milien wie Hydroptilidae und Limnephilidae, von denen zahlreiche Vertreter Präferenzen für Still- gewässer zeigen. Für die Bestimmung der Imagi- nes sind folgende Arbeiten unentbehrlich: MARS- HALL (1978) -behandelt nur die Familie Hydroptili- dae-, TOBIAS & TOBIAS (1981), MALICKY (1983). Weiterhin ist in Zweifelsfällen auf MACAN (1973), KUMANSKI (1985, 1988), NOGRADI & UHERKOVICH (2002) und andere Einzelarbeiten zurückzugrei- fen, notfalls ist die betreffende Erstbeschreibung heranzuziehen. Zur Determination der Larven sind zu konsultieren: PITSCH (1993), EDINGTON & HILDREW (1995), WARINGER & GRAF (1997), TACHET et al. (2000) und WALLACE et al. (2003). Wie bei den Imagines kann es nötig sein, auf ergänzende Ein- zelpublikationen zurückzugreifen, die hier nicht alle genannt werden können. Die verwendete Nomenklatur folgt ROBERT (2001), bei Sericosto- ma schneideri wird auf BOTOSANEANU (2001) ver- wiesen. Zu den 202 in Sachsen-Anhalt festgestellten Kö- cherfliegen-Arten kommen 5 weitere, die mögli- cherweise in Landesgebiet vorkommen bzw. vor- kamen: - Tinodes dives (PICTET, 1834): Die Angabe ei- nes Einzelfundes für das Tiefland bei KLIMA et al. (1994) ließ sich, bedingt durch den tragi- schen Unfalltod von Dr. Franz KLIMA im Som- mer 1997, nicht klären. Da die Art im gesam- ten Norddeutschen Tiefland nicht nachgewie- sen ist (KRAFT & HAASE 1998, REUSCH & BRINK- gefährdet. Hierbei ist allerdings zu bemerken, dass ein Vergleich nur unter Vorbehalt möglich ist, da die damalige Fassung der Roten Liste stark auf den Kenntnisstand Niedersachsens bezogen war und z.B. 15 Arten enthielt, die bis heute nicht in Sachsen-Anhalt nachgewiesen werden konnten! Trotzdem ist nicht zu übersehen, dass sowohl im Tiefland als auch im Hügel- und Bergland der Anteil ausgestorbener bzw. vom Aussterben be- drohter Arten deutlich zurückgegangen ist, was ursächlich mit der besseren Erforschung dieser Gruppe zusammenhängt. So sind landesweit nur noch zwei Arten als Ausgestorben oder verschol- len anzusehen (Melampophylax mucoreus, Se- todes punctatus). MANN 1998), wird die Meldung vorerst nicht be- rücksichtigt. - Diplectrona felix MCLACHLAN, 1878: Die Art wird von MEY et al. (1979) für den Harz mit einem Fundort vor 1930 gemeldet; nach MEY (mdl. Mitt. 2003) beruht diese Angabe auf einer mdl. Mitt. DÖHLERs. D. felix wird in keiner anderen Bear- beitung der Harzer Trichoptera erwähnt und in DÖHLERs Sammlung (HAASE schr. Mitt. 2003) fehlt entsprechendes Belegmaterial - ein Vor- kommen in Sachsen-Anhalt ist zweifelhaft. - Brachycentrus maculatus (FOURCROY, 1785): MEY (1980) berichtet über 2 im ZMB mit der Fundortbezeichnung Harz, die 1909 gesammelt worden waren. Eine Zuordnung zum Landes- gebiet Sachsen-Anhalts, Niedersachsens oder Thüringens ist auf Grund der ungenauen Fund- bezeichnung nicht möglich. - Metanoea rhaetica SCHMID, 1956: Die Art wird von MCLACHLAN (zit. n. MEY 1980) für den Harz angegeben und ist aus dem Westharz durch 1, 1 vom Juli 1884 (St. Andreasberg) sicher belegt (REUSCH 1995)! Nach MEY (1980) befin- det sich im ZMB 1 ohne Fundortbezeichnung; ein historisches oder aktuelles Vorkommen in Sachsen-Anhalt ist möglich. - Ceraclea albimacula (RAMBUR, 1877): KLIMA et al. (1994) listen die Art in der Gefährdungska- tegorie 0 (Ausgestorben oder verschollen) auf, wie im Fall von T. dives ist die Datengrundlage dafür bisher nicht nachvollziehbar (M. KLIMA schr. Mitt. 1999). Etwa 41 % der im Tiefland vorkommenden Köcher- fliegen bzw. etwa 42 % der Arten des Hügel- und Berglandes mussten in die Kategorien 0-3, R, G und D (im gesamten Landesgebiet betrifft das 108 Arten, ca. 53 %) aufgenommen werden (Tab. 1 und 2). Im Vergleich zur 1. Fassung (REUSCH & BLANKE 1993) galten in den entsprechenden Naturräumen 39 % bzw. 66 % der Arten als mehr oder weniger 0 Tiefland Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) Bergland Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) Gefährdungskategorie R 1 2 3 Rote ListeGesamt 142 -69171951 -4,26,312,013,435,9 6154191862 3,48,62,310,910,335,5 Kategorien V G D Tiefland Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) Bergland Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) Gefährdungsursachen und erforderliche Schutzmaßnahmen Köcherfliegen-Populationen sind insbesondere durch alle strukturellen und stofflichen Eingriffe bedroht, die ihre Entwicklungsgewässer nachhal- tig verändern oder zerstören. Hierzu zählen: - Einleitung unzureichend geklärter organischer und anorganischer Abwässer, - Gewässerverlegung, -ausbau und -unterhal- tung (Grundräumung, Entfernen von Wasser- pflanzen), - Änderung des Temperaturregimes (Abholzen uferbegleitender Erlensäume, Erwärmung durch Talsperren, Badegewässer, Fischteiche und Biberseen), - Querbauwerke in Fließgewässern (Wehre, Ab- stürze, Verrohrungen), die zu isolierten Popu- lationen führen, - Austrocknung von Gewässern durch übermä- ßige Grund- oder Oberflächenwasserentnahme (Trinkwassergewinnung, landwirtschaftliche Beregnung, Viehtränken), - Anthropogen bedingte Versauerung durch Luft- schadstoffe oder Nadelholzbestände in unmit- telbarer Gewässernähe, Sonstige GesamtGesamt 142 -448 -2,82,85,6 -8412 -4,62,36,9 Tab. 1: Übersicht zum Gefähr- dungsgrad der Köcherfliegen Sachsen-Anhalts. 175 Tab. 2: Übersicht zur Einstu- fung in die sonstigen Kategori- en der Roten Liste. 175 Die Kategorie V -Vorwarnliste- wurde nicht vergeben, da hierfür die Datengrundlage derzeit nicht ausreichend ist. %
Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
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Language: Deutsch
Issued: 2005-06-15
Modified: 2005-06-15
Time ranges: 2005-06-15 - 2005-06-15
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