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geradfl_Kap16_Forschungsbedarf.pdf

Description: 16 Forschungsbedarf M. WALLASCHEK 16.1 Zoogeographie In paläoorthopterologischer Hinsicht wäre es wünschenswert, wenn die schon mehrere Jahr- zehnte alten Orthopterenfossilien aus dem Gei- seltal einer Neubearbeitung zugeführt werden könnten, die den Fortschritt von Taxonomie und Systematik hinreichend berücksichtigt. Zudem wäre die weitere Untersuchung der Orthoptere- ninklusen im Bitterfelder Bernstein willkommen. Trotz des unverkennbaren rezenten faunistisch- chorologischen Kenntniszuwachses über die Or- thopterentaxa Sachsen-Anhalts muss konstatiert werden, dass einige Landschaften nur erst im Überblick bekannt sind. Dazu gehören die Alt- mark, das Ostbraunschweigische Flachland, das Nordharzvorland, der Harz, das Nordöstliche Harzvorland und die Magdeburger Börde, das Genthiner Land sowie die Dübener Heide und die Annaburger Heide. Aber selbst in den relativ gut bearbeiteten Natur- räumen finden sich Gebiete, die noch unzurei- chend untersucht sind. Meist handelt es sich um für Heuschreckenkundige, auf deren Schultern ja die Beschäftigung mit den Orthopterentaxa des Landes weitgehend ruht, wenig attraktiv er- scheinende Acker- und Waldlandschaften. Urbane Landschaften sind zwar in Sachsen- Anhalt gut im Hinblick auf die Orthopterenfauna naturnaher Räume hin untersucht, doch mangelt es trotz aller Fortschritte deutlich an der Erfas- sung synanthroper Arten. Auch den nichtsy- nanthropen ins Land verdrifteten oder ver- schleppten Orthopterenspecies sollte Aufmerk- samkeit zuteil werden, könnten sich doch hieran Entwicklungen in der Landesfauna sehr zeitig erkennen und kausal bearbeiten lassen. Die Ohrwürmer und Schaben sind insgesamt deutlich schlechter untersucht als die Lang- und Kurzfühlerschrecken. Das liegt zum einen daran, dass sie mit dem bei der Heuschreckenerfas- sung üblichen Keschern und Steinewenden nur in begrenztem Maße zu erlangen sind und der Zugang zu Fallenmaterial aus verschiedenen Gründen limitiert ist, also noch weitere Erfas- sungsmethoden angewendet werden müssen, zum anderen an der Bindung vieler dieser Arten an den relativ selten von Heuschreckenkundlern aufgesuchten Wald. Aufgrund des begrenzten Zeit- und Arbeitskräf- terahmens ist es nur im Saale-Unstrut-Raum, bei Halle, Dessau, Magdeburg und im Ostbraunschweigischen Flachland gelungen, die meisten Altfundorte aufzusuchen und die dama- ligen Befunde nachzuprüfen. Der zu Projektbe- ginn im Vergleich zu anderen Landschaften rela- tiv gut untersuchte Harz mit seiner Vielzahl von Altangaben musste zugunsten bis dato gar nicht bearbeiteter Räume vernachlässigt werden. Die zoogeographische Raumgliederung des Landes bedarf der Überprüfung und Ergänzung. Wegen des bei weitem nicht vollständigen zoo- zönologischen Kenntnisstandes fehlen noch aus vielen Naturräumen Sachsen-Anhalts verlässli- che Angaben zur Vagilität der Orthopterenarten. 16.2 Ökologie Da eine Reihe von Landschaften Sachsen- Anhalt noch nicht in befriedigender Weise zoo- geographisch und zoozönologisch untersucht worden sind, dürften hinsichtlich der Biotopbin- dung vieler Orthopterenarten noch neue Er- kenntnisse zu gewinnen sein. In autökologischer und bionomischer Hinsicht erscheint es interessant, der Phänologie aller Arten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Für ter- ricole Species bietet sich Fallenmaterial in be- sonderer Weise an, sofern die Fallen mindes- tens eine volle Vegetationsperiode einschließlich des Winters fängig gehalten worden sind. In keiner einzigen Landschaft Sachsen-Anhalts sind die Orthopterenzönosen aller relevanten Biotop- und Nutzungstypen untersucht worden. Selbst in den am besten zoozönologisch bear- beiteten Naturräumen fehlen meist die Arten- bündel von Äckern, Gärten, Obstkulturen und den verschiedenen Gebäudetypen. Nicht hinrei- chend bearbeitet sind generell auch Wälder, Hecken, Gebüsche und Feldgehölze. 16.3 Naturschutz An den Altfundorten bzw. in den Ansprüchen entsprechenden Lebensräumen der in Sachsen- Anhalt „ausgestorbenen oder verschollenen“ Heuschreckenarten Calliptamus italicus, Gomphocerus sibiricus, Locusta migratoria und Podisma pedestris sollte wiederholt und intensiv nachgesucht werden. Angesichts der lange aus- einander liegenden Funddaten von Gomphoce- rus sibiricus und Podisma pedestris kann immer noch auf Funde im Harz, bei der letzteren Art auch auf Truppenübungsplätzen gehofft werden. Genauso sind Wiedereinflüge von Locusta migratoria und das Wiedererscheinen von Cal- liptamus italicus im Saale-Unstrut-Raum oder in 253 den Sandgebieten des Landes nicht auszu- schließen. Bei Wiederfunden sind, mit Ausnah- me von Locusta migratoria, die Lebensraumflä- chen zu sichern und Untersuchungen zum Sta- tus der Populationen sowie zu geeigneten Schutzmaßnahmen einzuleiten. Für die in Sachsen-Anhalt „vom Aussterben be- drohten“, „stark gefährdeten“ und „extrem selte- nen“ Orthopterenarten Chorthippus vagans, Decticus verrucivorus, Gampsocleis glabra, La- bidura riparia, Oedipoda germanica, Psophus stridulus, Sphingonotus caerulans, Stenobothrus crassipes, S. nigromaculatus und S. stigmaticus sollten Artenhilfsprogramme erarbeitet werden. Da Sachsen-Anhalt eine besondere Verantwor- tung für die Erhaltung des Vorpostens von Gampsocleis glabra trägt, muss diese Art im Vordergrund der Bemühungen stehen. Unerlässlich ist die umgehende Nachsuche an allen Altfundorten von Psophus stridulus. Drin- gender Untersuchungsbedarf hinsichtlich der zoogeographischen und ökologischen Grundla- gendaten der Bestände in Sachsen-Anhalt be- steht bei Oedipoda germanica. In den nächsten Jahre sollten solche Untersuchungen auch für Stenobothrus nigromaculatus und S. crassipes veranlasst werden. Viele der Fundorte von Chorthippus vagans, Decticus verrucivorus, Labidura riparia und Ste- nobothrus stigmaticus bedürfen neben ihrer na- turschutzrechtlichen Sicherung der extensiven Nutzung oder Pflege. Dazu sind allerdings auf den Einzelfall ausgerichtete Untersuchungen er- forderlich. Solche Untersuchungen erfordern auch Labidu- ra riparia und Sphingonotus caerulans, die im nächsten Jahrzehnt im Süden des Landes durch den Rückgang des Braunkohlenbergbaus sowie durch Rekultivierung und Sukzession, in der Mit- te und im Norden des Landes durch die Sukzes- sion der Offenflächen auf Truppenübungsplät- zen viele Lebensräume verlieren werden. Oedipoda caerulescens ist die am wenigsten im Bestand bedrohte „besonders geschützte“ Or- thopterenart Sachsen-Anhalts. Sie unterliegt je- doch prinzipiell denselben Gefährdungen wie die beiden vorgenannten Arten. Ihre Bestände ver- dienen daher Beachtung bei allen Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftsplanung, insbesondere bezüglich der Eingriffsplanung. Auch wenn die Bestände von Isophya kraussii, Barbitistes serricauda und Nemobius sylvestris als Arten, für die Deutschland „in besonderem Maße“ bzw. „stark“ verantwortlich ist, in Sach- sen-Anhalt an der Arealgrenze liegen, sollte sie 254 der Naturschutz im Land bei seinen Bemühun- gen besonders beachten. Beispielsweise wäre es sinnvoll, die Exklaven von Nemobius syl- vestris im Fläming naturschutzrechtlich zu si- chern, zumal damit gleichzeitig Bestände hier nicht häufiger alter Laubwälder geschützt wer- den würden. Allerdings bestehen zur Verbrei- tung und Ökologie aller drei Arten noch erhebli- che Kenntnislücken, die durch entsprechende Arbeiten geschlossen werden sollten. „Stark verantwortlich“ ist Sachsen-Anhalt auch für die Bestände von Chelidurella guentheri, wo- bei weniger über die Ökologie als über die Verbreitung im Land nur unzulängliche Kennt- nisse bestehen. Hier ergibt sich Kartierungsbe- darf. Im Landessüden sollte beachtet werden, dass die Etablierung von Mantis religiosa im Gefolge von Verdriftung oder Verschleppung nicht aus- geschlossen werden kann. Beim Erscheinen der Art sollten Untersuchungen zum Status der Po- pulation anlaufen und die Lebensräume sofort naturschutzrechtlich gesichert werden. Die natürlichen Zielartensysteme sollten weiter qualifiziert werden. 16.4 Wirtschaft und Gesundheit Der Erfolg der Zusammenarbeit zwischen Ento- mologen mit zoogeographisch-ökologischer und medizinisch-hygienischer Ausrichtung in diesem Projekt sollte Anlass sein, in Zukunft noch stär- ker, als das in diesem Projekt mittels Umfragen und persönlicher Kontakte geschehen konnte, auf den Kreis der in Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau, Lagerwirtschaft und Schädlingsbe- kämpfung tätigen Fachleute zuzugehen. Einerseits ist daraus die Verbesserung des fau- nistisch-chorologischen und ökologischen Kenntnisstandes über die Orthopterenarten der Kultur- und Anthropozönosen Sachsen-Anhalts, andererseits eine Erweiterung des Wissens über deren konkrete wirtschaftliche und gesundheitli- che Nutz- oder Schadwirkungen auf dem Lan- desgebiet zu erwarten. Das dürfte wesentlich zur Qualifizierung der Nutzens- oder Schadens- potenziale der Geradflügler des Landes beitra- gen. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten gesucht werden, das Wissen über die wirtschaftlich und gesundheitlich bedeutsamen Orthopterenarten Sachsen-Anhalts durch gezielte Kartierungen zu verbessern.

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Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU

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License: all-rights-reserved

Language: Deutsch

Issued: 2007-01-12

Modified: 2007-01-12

Time ranges: 2007-01-12 - 2007-01-12

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