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geradfl_Kap4_Einleitung.pdf

Description: 4 Einleitung M. WALLASCHEK, T. J. LANGNER & K. RICHTER Für viele Menschen dürfte sich die Frage stellen, warum hier eine Publikation über Ohrwürmer, Fangschrecken, Schaben und Heuschrecken vorgelegt wird. Daher soll ein Überblick dieser Insektengruppen, die als Geradflügler oder Or- thopteren (Orthoptera s.l.) zusammengefasst werden können, vorangehen. Dem folgt eine Darstellung der Geschichte und der Ziele des Projektes, dessen wichtigstes Ergebnis diese Veröffentlichung bildet. Ohrwürmer - Dermaptera Die weltweit etwa 1300 rezenten Ohrwurmarten sind ausgesprochene Dämmerungs- und Nacht- tiere, die zugleich eine hohe Luftfeuchtigkeit ver- langen. Sie bevorzugen Schlupfwinkel, in denen sie mit möglichst vielen Körperstellen Kontakt mit dem Substrat haben. Angegriffen, wehren sie sich durch Kneifen mit den typischen Zangen und durch Absonderung eines die Haut ätzen- den Sekretes (GÜNTHER 2000a). Nur acht Ohrwurmarten sind in Deutschland in- digen (MATZKE 2000, WALLASCHEK 1998b). An- gesichts dieser geringen Artenzahl sowie der auf Ekel und Angst beruhenden Einstellung vieler Menschen diesen Tieren gegenüber kann das mangelnde Interesse an den Dermapteren nicht verwundern. Allerdings hat sich herausgestellt, dass heimische Ohrwurmarten in bestimmten Lebensräumen zu den dominanten Tierarten oder -gruppen hinsichtlich Siedlungsdichte und Biomasse gehören können (ELLENBERG et al. 1986). Von einzelnen Dermapterenarten ist be- kannt, dass sie sehr spezielle ökologische An- sprüche besitzen (HARZ 1957). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich die heimische Ohrwurm- fauna zudem in ihrer Zoogeographie und Ökolo- gie erstaunlich vielfältig (WALLASCHEK 1998b). Die zoo- oder pantophage Ernährungsweise hat Untersuchungen zum Einsatz von Dermaptere- narten, darunter auch heimischen, für die biolo- gische Schädlingsbekämpfung angeregt (CAUS- SANEL & ALBOUY 1991). In der Kleingartenpraxis wird der bekannte Gemeine Ohrwurm mancher- orts bereits in diesem Sinne gefördert. Gelegent- lich mag er aber auch als Pflanzen- oder Vor- ratsschädling, Lästling und in seltenen Fällen durch Verschleppen von Krankheitserregern der Kulturpflanzen und des Menschen in Erschei- nung treten (BEIER 1959). Nicht unerwähnt soll bleiben, dass den heimi- schen Dermapterenarten, -faunen und -taxo- zönosen in gewissem Umfang Zeigerfunktion für die Landschaftsstruktur, den Grad des anthro- pogenen Einflusses und einzelne ökologische Faktoren zukommen kann. Somit lassen sie sich durchaus im Rahmen der Bioindikation in der Landschaftsplanung einsetzen (WALLASCHEK 1998b). Fangschrecken - Mantodea Von den weltweit etwa 2000 Arten besitzt Deutschland nur einen Vertreter (GÜNTHER 2000b). Es handelt sich um die trotz ihrer hiesi- gen Seltenheit wegen der charakteristischen Fangbeine, der stark verlängerten Vorderbrust, des kleinen dreieckigen Kopfes mit den hoch- leistungsfähigen Komplexaugen und des nicht selten traurigen Schicksals der männlichen Tiere allgemein bekannte Gottesanbeterin. Die Fangschrecken sind recht eng mit den Schaben verwandt, wie sich am besten an den ähnlich gebauten Eipaketen erkennen lässt. Die Tiere zeigen eine vorwiegend tropische und sub- tropische Verbreitung. Fossile Mantodeenfunde gelangen bisher vergleichsweise selten, vermut- lich sind aber die Urahnen dieser Tiergruppe im Perm zu suchen. Praktische Bedeutung kommt den Fangschrecken bei uns nicht zu, sieht man von den wenigen indigenen Vorkommen der Gottesanbeterin in Deutschland als interessante Naturdenkmale ab. In einem Falle wurde diese Art in Sachsen-Anhalt eingeschleppt. Schaben - Blattoptera Die Schaben sind nach BEIER (1961) die einzige heute noch lebende Insektenordnung, die sich in ununterbrochener Reihe bis in das mittlere O- berkarbon zurückverfolgen lässt. Die große Zahl von fossilen Resten aus den paläozoischen Schichten der ganzen Welt, die alle übrigen In- sektenreste weitaus übertrifft, legt nahe, dass die Ordnung am Ausgang des Karbon und im Perm hinsichtlich Formenmannigfaltigkeit sowie Arten- und Individuenreichtum den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hat und seither lang- sam im Rückgang begriffen ist. Der ursprüngli- che Lebensraum der abgeflachten, im Umriß ovalen und lauffreudigen Tiere ist wohl in feucht- warmen, dunklen, tropischen Urwäldern zu suchen, wo sie geeignete Verstecke im Boden- laub, unter Steinen und loser Rinde sowie Nahrung in Form tierischer und pflanzlicher Stof- fe im Überfluss fanden. Hier lebt auch heute noch ein Großteil der ca. 4000 rezenten Arten (GÜNTHER 2000c). 11 In Deutschland sind bisher sieben freilebende, fünf regelmäßig reproduzierende synanthrope sowie mehrere gelegentlich eingeschleppte Ar- ten nachgewiesen worden (BOHN 1989, 2003, GÖTZ 1965, HARZ 1960, POSPISCHIL 2004, SCHIEMENZ 1978, VATER & LÖFFLER 1989, WAL- LASCHEK 1998f). Die synanthropen Schabenar- ten besitzen als Überträger von Krankheitserre- gern eminente Bedeutung, daneben auch als Vorrats-, Material- und Pflanzenschädlinge (BEI- ER 1961, VATER et al. 1992). Die freilebenden Schabenarten kollidieren hin- gegen als pantophage Waldbewohner in keiner Weise mit den Interessen des Menschen, wenn man nicht gelegentliches Eindringen der Gemei- nen Waldschabe in Waldhäuser (WEIDNER 1972, MIELKE 2000b) als Belästigung einstufen will. Neben ihrer Wirkung im Stoffkreislauf des Wal- des kommt ihnen Bedeutung für die Bewertung von Waldlandschaften im Zuge von Planungen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu (WALLASCHEK 1997d, 2002a). Langfühlerschrecken - Ensifera und Kurzfüh- lerschrecken - Caelifera Im Ergebnis phylogenetischer Untersuchungen werden seit einigen Jahren die beiden Ordnun- gen Langfühlerschrecken und Kurzfühlerschre- cken mit ca. 9000 bzw. 11000 Arten unterschie- den, die bis dahin als Unterordnungen der Heu- schrecken (Saltatoria) galten (GÜNTHER 2000d). Dieser traditionelle Begriff wird im folgenden dort verwendet, wo es sprachlich oder inhaltlich sinnvoll erscheint. MAAS et al. (2002) führen in ihrer Checkliste 84 Heuschreckenarten (Ensifera: 40, Caelifera: 44) für Deutschland. Es handelt sich dabei um alle seit 1850 in Deutschland sicher registrierten Ar- ten mit Ausnahme eingeschleppter Taxa, die sich bisher hier nicht fortpflanzen konnten. Heuschrecken besitzen meist als Primärkonsu- menten, ein Teil auch als Sekundärkonsumen- ten Bedeutung in terrestrischen Ökosystemen. Im Grasland können die Tiere mit den sprich- wörtlichen Sprungbeinen zu den dominanten Wirbellosengruppen gehören. In extrem er- scheinender Weise tritt uns dies in Form von Schwärmen der Wanderheuschreckenarten, von denen es weltweit etwa zehn gibt (BEIER 1955), gegenüber. Das bedeutet für seßhafte Acker- bauern in den betroffenen Ländern, wie auch früher in Mitteldeutschland (VATER 1994), Ver- heerung der Saaten, Teuerung und Hungersnö- te. Nomaden können Wanderheuschrecken hin- gegen heute noch recht effektiv als protein- und vitaminreiche Nahrung nutzen (SCHIMITSCHEK 1968). Obwohl uns die Europäische Wanderheuschre- cke in Folge der meliorativen Vernichtung ihrer südosteuropäischen Brutplätze (WEIDNER 1938a) schon lange nicht mehr heimgesucht 12 hat, kennen auch wir noch bodenständige Heu- schreckenarten, die zuweilen als Pflanzen- schädling (Maulwurfsgrille, Gewächshausschre- cke) oder als Lästling, Vorrats-, Material- und Gesundheitsschädling (Heimchen) von sich Re- den machen (STEINBRINK 1989, WEIDNER 1993). Aufgrund ihrer bioindikatorischen Bedeutung hat die Nutzung der Heuschrecken in Naturschutz und Landschaftsplanung einen immensen Auf- schwung genommen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung der Heuschrecken auf die sinnliche Wahrnehmung der Landschaft. Geschichte des Projektes Eine Fauna und einen Verbreitungsatlas der Or- thopteren von Sachsen-Anhalt zu erarbeiten, war erst mit der nach kurzem Bestehen zwi- schen 1946 und 1952 erfolgten Wiedergründung dieses deutschen Bundeslandes im Jahr 1990 möglich. Dass es überhaupt gelungen ist, dieses Vorhaben anzugehen und nunmehr nach erst 14 Jahren ununterbrochener staatlicher Existenz des Landes abzuschließen, hat eine Reihe von Ursachen. Zuerst zu nennen sind die Erkenntnisse, die vor 1990 von Orthopterologen wie Ernst L. TA- SCHENBERG, Friedrich ZACHER, Wilhelm LEON- HARDT, Herbert WEIDNER, Friedrich KÜHLHORN sen., Friedrich KÜHLHORN jun. und Hans SCHIE- MENZ zusammengetragen wurden. Ein wichtiger Impuls für die Zusammenarbeit der Orthopterologen des Landes war die Abfassung der ersten Roten Liste der Heuschrecken Sach- sen-Anhalts, die im Jahr 1993 publiziert worden ist. Diese ehrenamtliche Arbeit fand von Anfang an und bis heute durch das Landesamt für Um- weltschutz Sachsen-Anhalt, insbesondere durch Herrn Dr. Peer H. SCHNITTER, Unterstützung. Wirtschaftliche und rechtliche Anforderungen führten in den letzten 15 Jahren zu einer Viel- zahl von Eingriffs- und Naturschutzplanungen, bei denen durch engagierte Biologen eine große Menge von Fundortangaben, insbesondere von Heuschrecken, ermittelt wurde. Zudem nahm sich die Forschung an Hochschu- len und Universitäten dieser Tiergruppe an. Her- vorzuheben ist der Lehrbereich Zoologie der e- hemaligen Pädagogischen Hochschule Halle- Köthen in Halle (Saale), in dem die zoogeogra- phisch-ökologische Forschung an Heuschrecken durch Herrn Prof. Dr. Franz TIETZE gefördert wurde. Schon bald war den im Land tätigen Orthoptero- logen klar, dass die Ohrwürmer und Schaben völlig vernachlässigt worden waren. So fanden diese Taxa seit ungefähr zehn Jahren zuneh- mend Beachtung. Überraschend war der Nach- weis einer Fangschreckenart auf dem Gebiet des Landes, so dass auch diese Orthopte- rengruppe integriert werden konnte. Der enorme Wissenszuwachs führte dazu, dass es bereits seit Mitte der 1990er Jahre kaum noch möglich war, einen vollständigen Überblick sämtlicher Daten zur Verbreitung aller Orthopte- renarten des Landes zu wahren. Schon 1996 entstand daher der Plan, eine Fauna mit Verbreitungsatlas der Geradflügler Sachsen- Anhalts abzufassen. Er fand mit Prof. Dr. Klaus RICHTER vom Fachbereich Landwirtschaft, Ö- kotrophologie und Landespflege der Hochschule Anhalt (FH) einen engagierten Befürworter und Antragsteller, mit dieser Hochschule einen Trä- ger und mit dem Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt einen Finanzier. So konnte im Zeitraum vom 01.06.2001 bis zum 31.05.2004 an der Hochschule Anhalt (FH) in Zusammenarbeit mit den sachsen-anhalter Or- thopterologen an dem landesfinanzierten Projekt „Zoogeographische und ökologische Untersu- chungen für eine Fauna der Heuschrecken, Ohrwürmer und Schaben (Insecta: Saltatoria, Dermaptera, Blattoptera) des Landes Sachsen- Anhalt“ (FKZ 3288A/0080R) gearbeitet werden. Ziele des Projektes Das Projekt hatte zum Ziel, die verfügbaren Verbreitungsdaten (Literatur, Sammlungen, Ar- tenlisten etc.) zu sammeln, zu sichern, zu prüfen und auszuwerten sowie in bisher schlecht zoo- geographisch und ökologisch bearbeiteten Landschaften Sachsen-Anhalts Kartierungen in für Geradflügler relevanten Biotoptypen durch- zuführen. Als Arbeitsmaterial sollte ein vorläufi- ger Verbreitungsatlas der Orthopteren des Lan- des Sachsen-Anhalt erstellt werden, der bereits neun Monate nach Projektbeginn publiziert wer- den konnte (WALLASCHEK et al. 2002). Des weiteren waren national und international bekannte zoogeographische und ökologische In- formationen über die Geradflügler Sachsen- Anhalts zusammenzustellen und zu parametri- sieren, um weiteren Forschungen im Land eine solide Vergleichsbasis zu schaffen. Dazu gehör- te auch die Erarbeitung der Arealdiagnosen der Arten und die Beschreibung des Faunenwandels im Laufe der Erdgeschichte als Grundlage für die Interpretation von Verbreitungsbildern und die Identifizierung von Ausbreitungs- und Refu- gialräumen. Wichtigstes Ziel war die dreidimensionale Dar- stellung der Verbreitung der Orthopteren im Land Sachsen-Anhalt in Texten und Karten. Es sollten auch synthetische Karten entstehen, so zur Verteilung der gesamten Artenvielfalt der Geradflügler im Land sowie zur Artenvielfalt ausgewählter zoogeographischer und ökologi- scher Artengruppen. Außerdem war der Versuch einer zoogeographischen Raumgliederung des Landes zu unternehmen. Alle Ergebnisse waren ökologisch zu interpretieren und zu begründen. Ein wesentliches Anliegen bildeten Schlussfol- gerungen für den Naturschutz und die Land- schaftsplanung, darunter die Überarbeitung und Neufassung der Roten Listen der Ohrwürmer, Schaben und Heuschrecken des Landes Sach- sen-Anhalt (WALLASCHEK 2004b, 2004c, 2004d), sowie die Bereitstellung von Angaben zur Verbreitung und Ökologie gesundheitlich und wirtschaftlich bedeutsamer Arten für die ent- sprechenden Bereiche (Gesundheits- und Vete- rinärwesen, Landwirtschaft, Gartenbau). Selbstverständlich sollten abgeschlossene Zwi- schenergebnisse publiziert werden, was auch über die bereits genannten Veröffentlichungen hinaus vielfach geschehen ist (vgl. Kap. 17). Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse des Pro- jektes im einzelnen vor. 13

Types:

Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU

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Language: Deutsch

Issued: 2007-01-12

Modified: 2007-01-12

Time ranges: 2007-01-12 - 2007-01-12

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