Description: 6 Geradflügler (Orthoptera s.l.) in Sachsen-Anhalt M. WALLASCHEK 6.1 Kenntniszuwachs WEIDNER (1938a) schreibt, dass das Volk in Mit- teldeutschland fünf Gruppen von Geradflüglern kennt: die Heuschrecken, das Heimchen, die Schaben, den Ohrwurm und in manchen Ge- genden die Maulwurfsgrille. Das dürfte heute trotz aller modernen Tierfilme und Tierbücher nicht viel anders sein, wird doch das Volkswis- sen über Insektenarten, so auch Orthopterenar- ten, offenkundig durch deren wirtschaftliche oder gesundheitliche Bedeutung bestimmt. So kann es kaum verwundern, dass sich, soweit bekannt, die ältesten Aufzeichnungen über Ge- radflügler in unserem Raum auf Einfälle der Eu- ropäischen Wanderheuschrecke und die durch sie hervorgerufenen Schäden beziehen. Nach WEIDNER (1938a, 1940) wurde das Gebiet von Sachsen-Anhalt nachweislich z.B. 1338 (Raum Halle und Harz) und 1693 (Raum Naumburg) davon berührt. Gelegentlich haben sich wohl die Tiere auf dem Landesgebiet fortgepflanzt, so um 1875 in der Gegend von Körbelitz bei Magde- burg. Die Wissenschaft nahm allerdings auch damals schon andere Geradflüglerarten ins Blickfeld. Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte wurde dabei zunehmend mehr Wert auf die genaue Angabe von Ort und Zeit des Fundes gelegt. So nannte RÜLING (1786) den Kleinen Zangen- träger, den Gemeinen Ohrwurm, die Orientali- sche Schabe, eine Waldschabe, das Grüne Heupferd, den Warzenbeißer, die Feldgrille, das Heimchen, die Maulwurfsgrille, die Europäische Wanderheuschrecke und die Rotflügelige Schnarrschrecke für den „Harz“. SAXESEN (1834) zählte die Zwitscherschrecke, den Warzenbeißer, die Kurzflügelige Beißschre- cke und die Rotflügelige Schnarrschrecke als Bewohner des „Oberharzes“, worunter er alle höheren Berge mit vorherrschendem Nadelholz- bestand fasste, auf. Er gab bereits einzelne, ihm besonders auffällige Fundorte genauer an, wo- bei allerdings keiner davon in Sachsen-Anhalt liegt. Von TASCHENBERG (1871) über ZACHER (1917) und LEONHARDT (1917, 1929) bis WEIDNER (1938a, 1940), RAPP (1943), KÜHLHORN (1955) und SCHIEMENZ (1969), um nur die wichtigsten älteren faunistischen Werke über sachsen- anhaltinische Orthopteren aufzuführen, erfolgte die Nennung von Fundorten vor allem in Form der Namen nächstgelegener Ortschaften. Teil- weise wurden sie mit einer genaueren Beschrei- bung der Lage der Fundlokalität, mit der Mee- reshöhe, dem Funddatum, einer Häufigkeitsan- gabe und der Biotopbeschreibung publiziert. Heute sollte es üblich sein, all diese Daten in faunistischen Veröffentlichungen aufzuführen, um die Wiederholbarkeit der Untersuchung und die Nutzung für Belange der Zoogeographie und Ökologie zu gewährleisten. Leider wird die in Jahrhunderten erreichte Einsicht in die Notwen- digkeit einer genauen Dokumentation von Fun- den derzeit nicht selten ignoriert, indem man z.B. die Lage von Fundorten nur als Meß- tischblatt(quadranten)nummern bekannt gibt. Wissenschaftliche Veröffentlichungen über Vor- kommen und Verbreitung von rezenten Gerad- flüglern auf dem Landesgebiet von Sachsen- Anhalt beginnen mit BURMEISTER (1838), der den Fund eines Weibchens von Myrmecophilus a- cervorum auf einer Chaussee in Halle (Saale) meldete. Seitdem sind 35 Publikationen mit faunistischen Primärdaten über Ohrwürmer erschienen, über Fangschrecken sind es 2, über Schaben 34 und über Heuschrecken 160. Die Verteilung über Zeitintervalle von je einem halben Jahrhundert Länge zeigt die enorme Zunahme der Publikati- onstätigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Abb. 1). Inzwischen gibt es kaum noch eine Region, aus der nicht wenigstens eine Veröffent- lichung vorliegt (vgl. WALLASCHEK 1996d) und ist die erste Arbeit mit Verbreitungskarten von Ge- radflüglerarten für das Land Sachsen-Anhalt publiziert worden (WALLASCHEK et al. 2002). Bisher sind fünf Ohrwurm-, eine Fangschrecken-, zehn Schaben-, 27 Langfühlerschrecken- und 34 Kurzfühlerschreckenarten aus dem Landes- gebiet bekannt geworden, also 77 Species. Die Kenntnis der Zahl der rezenten Orthopterenar- ten hat in den oben genannten Intervallen er- heblich zugenommen, wobei die Phase des stärksten Kenntniszuwachses in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag (Abb. 2). Ende der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts resultierten Neufunde vor allem aus intensiverer Nachsuche, darunter auch nach Irrgästen und synanthropen Arten. Die Gesamtzahl der Datensätze nimmt für die Orthopterenordnungen Sachsen-Anhalts folgen- de Werte an: Dermaptera 943, Mantodea 1, Blattoptera 426, Ensifera 12.959, Caelifera 21.621, zusammen also 35.950. 23 Die Verteilung der Anzahl von Publikationen wie auch Datensätzen auf die einzelnen Zeitab- schnitte (Abb. 1, Abb. 3) ist auf einen Wandel der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit faunisti- scher Forschungen an heimischen Orthopteren zurückzuführen. Lange Zeit befassten sich nur einzelne Forscher mit der Faunistik. Synanthro- pe Schaben und Heuschrecken erlangten in Folge der Zunahme der menschlichen Bevölke- rungsdichte stärkere Beachtung aus hygieni- scher Sicht, was sich jedoch zumeist nicht in ei- ner wesentlichen Befruchtung des faunistischen Kenntnisstandes durch Mediziner, Hygieniker und Schädlingsbekämpfer ausdrückte. Obwohl einzelne Ohrwurm- und Heuschrecken- arten zuweilen erhebliche Schäden im Garten- und Obstbau anrichten können, andererseits Ohrwürmer für den biologischen Pflanzenschutz Bedeutung erlangt haben, steuern Agrarwissen- schaftler und Landwirte bisher ebenfalls nur sel- ten faunistische Kenntnisse über diese Arten bei. Nach der politischen Wende 1989/1990 lösten die enorm gestiegenen wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen eine große Zahl von Eingriffs- und Naturschutzplanungen aus. Das führte zu einer rasanten Zunahme der Datensät- ze, auch für die bisher vernachlässigten Ohr- würmer und Schaben (Abb. 3). Sie zeigt, dass diese heimischen Orthopterentaxa über die wirt- schaftliche oder gesundheitliche Bedeutung ein- zelner Vertreter hinaus einen erheblichen Stel- lenwert in der Umweltüberwachung und – vorsorge sowie in der zoogeographischen und ökologischen Forschung erhalten haben. Belegt wird das zunehmende Interesse an den heimischen Geradflüglern auch durch die nicht geringe Zahl von 26 Sekundärveröffentlichungen mit direktem Bezug auf Sachsen-Anhalt (z.B. Faunenwerke, Checklisten, Rote Listen, Listen charakteristischer Arten von FFH- Lebensraumtypen und Landschaften, Arten- und Biotopschutzprogramme). Völlig losgelöst von Forschungen an den rezen- ten Orthopteren Sachsen-Anhalts liefen bisher paläoentomologische Untersuchungen, über de- ren Ergebnisse immerhin 13 Publikationen vor- liegen. Dabei besitzen fossile Geradflügler aus heimischen Lagerstätten eine weit über die Lan- desgrenzen hinaus reichende Bedeutung (WAL- LASCHEK 2003d). Sie werfen ein Schlaglicht auf die Vielfalt und das gewaltige Ausmaß der or- thopterologischen und geographischen Verän- derungen auf dem Landesgebiet, in Mitteleuropa und auf der nördlichen Halbkugel, die sich of- fensichtlich teils sprunghaft, teils kaum merklich vollzogen haben. Auch daran wird das Momen- tane der hier vorliegenden Arbeit sichtbar. 250 Publikationen 200 150 100 50 0 bis 1849 1850-1899 1900-1949 1950-1999 Zeitraum Dermaptera Mantodea Blattoptera Saltatoria Abb. 1: Kumulierte Zahl von Publikationen mit rezenten faunistischen Primärdaten. 24 2000-2004 80 70 60 Artenzahl 50 40 30 20 10 0 bis 1849 1850-1899 1900-1949 1950-1999 2000-2004 Zeitraum Dermaptera Mantodea Blattoptera Ensifera Caelifera Abb. 2: Kumulierte Zahl aus Sachsen-Anhalt publizierter rezenter Orthopterenarten. 40000 35000 Datensätze 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0 bis 1949 1950-1999 2000-2004 Zeitraum Dermaptera, Mantodea, Blattoptera Ensifera Caelifera Abb. 3: Kumulierte Zahl von Datensätzen. 25
Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
Tags: Maulwurfsgrille ? Feldgrille ? Heuschrecken ? Ohrwürmer ? Sachsen-Anhalt ? Obstbau ? Biotoptyp ? Irrgast ? Schabe ? Verbreitungskarte ? Ökologie ? Zoogeografie ? Würmer ? Lagerstätte ? Artenschutzprogramm ? Umweltmonitoring ? Harz ? Mitteleuropa ? Saale ? Berg ? Rote Liste gefährdeter Arten ? Biologische Schädlingsbekämpfung ? Biotopschutzprogramm ? Fauna ? Landschaft ? Fundort ?
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Language: Deutsch
Issued: 2007-01-12
Modified: 2007-01-12
Time ranges: 2007-01-12 - 2007-01-12
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