Description: Frank, D. & Schnitter, P. (Hrsg.): Pflanzen und Tiere in Sachsen-Anhalt Zehnfüßige Krebse (Decapoda: Atyidae, Astacidae, Grapsidae) Bestandsentwicklung. 2. Fassung, Stand 2013 Wolfgang Wendt Einführung Von den etwa 55 in Deutschland vorkommenden Arten der Ordnung der zehnfüßigen Krebse lebt die Mehrzahl in marinen Gewässern. Das potenzielle Arten- spektrum der „Großkrebse“ ist für Binnenländer schon aufgrund dieser naturgegebenen Rahmenbedingung stark limitiert. Mit ursprünglich nur einem heimischen Vertreter, dem Edelkrebs Astacus astacus, ist das Ar- teninventar jedoch selbst gegenüber den süddeutschen Ländern ungewöhnlich klein. Bewusste und unbewusste menschliche Einflussnahme führten in den zurücklie- genden 120 Jahren in Sachsen-Anhalt zu der in der hei- mischen Fauna wohl einmaligen Situation, dass von einer Tierordnung inzwischen deutlich mehr allochthone als autochthone Arten vorkommen. Neben dem autochtho- nen Edelkrebs besiedeln inzwischen fünf Vertreter frem- der Faunen die Gewässer. In der Reihenfolge ihrer Ein- bürgerung bzw. Einschleppung sind dies: Kamberkrebs (Orconectes limosus), Galizischer Sumpfkrebs, (Astacus leptodactylus), Chinesische Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis), Süßwassergarnele (Atyaephyra desmaresti) und Marmorkrebs (Procambarus fallax f. virginalis). Schließlich muss in absehbarer Zeit wohl auch mit dem Signalkrebs (Pacifastacus leniusculus Dana, 1852) als sechstem Neubürger in heimischen Gewässern ge- rechnet werden. Einzelfälle angeblicher Einbürgerung im Ohrekreis nennen unter Berufung auf Engelcke erstmals Wüstemann & Wendt (1995). Die damalige Überprüfung der relevanten Gewässer erbrachte al- lerdings keine Bestandsnachweise. Inzwischen gibt es einen weiteren bislang ungeprüften Hinweis auf ein vermeintliches Vorkommen in der Mulde bei Dessau. Die Einfuhr und Aussetzung der Großkrebsarten Orconectes limosus und Astacus leptodactylus sind in Deutschland eine unmittelbare Folge des Massenster- bens der Edelkrebse am Ende des 19. Jahrhunderts infolge der sogenannten Krebspest. Das Infektions- geschehen mit dem zu den Oomyceten (Eipilzen) gehörenden Erreger Aphanomyces astaci Shikora (Schrimpf & Schulz 2013) raffte seinerzeit lawinen- artig nahezu alle Edelkrebse von der Lombardei bis nach Schweden, Finnland und Russland dahin. Nur in isolierten Refugialräumen konnten Edelkrebsbestände vereinzelt überleben. Als vermeintlich gegenüber dem Erreger der Krebspest resistente fremdländische Krebs- arten wurden 1890 100 Exemplare des Kamberkrebses aus Pennsylvania und um 1900 der aus dem pontokaspi- schen Raum eingeführte Galizische Sumpfkrebs ausge- setzt (Albrecht 1983). Letztere Art erwies sich jedoch nicht als „krebspestresistent“ und erfuhr daher keine starke Verbreitung. Der Kamberkrebs konnte hingegen die durch das Seuchengeschehen frei gewordene ökolo- gische Nische optimal nutzen. Von seinem Erstansied- lungsort 50 km nördlich von Frankfurt/Oder breitete er sich jährlich um etwa 5 km Flussstrecke weiter aus (Pieplow 1938). Parallel zu dieser eigenständigen Are- alerweiterung erfolgten vielfach Umsetzungen in noch unbesiedelte Gewässer. Die bis in die jüngere Vergan- genheit vor allem im Gefolge der Sportangelei prakti- zierte unkritische und gesetzwidrige Verfrachtung der Art hat in zahlreichen Gewässern, insbesondere im Harz, zur endgültigen Vernichtung von Reliktvorkom- men des Edelkrebses geführt. Ob das lokale Aussterben in diesen Fällen eine Folge des Erregereintrags mit den Besatzkrebsen war oder sich allein aus dem erheblich Anmerkungen zu den Arten Der Edelkrebs (Astacus astacus) ist als einzige autoch- thone zehnfüßige Krebsart in der Roten Liste von Sach- sen-Anhalt als „stark gefährdet“ ausgewiesen (Wüste- mann & Wendt 2004). Bundesweit wird er seit nun- mehr 30 Jahren in der Gefährdungskategorie 1 geführt (Blab et al. 1984) und genießt als „streng geschützte Art“ einen hohen gesetzlichen Schutzstatus (Bundes- artenschutzverordnung 2005). Da in den zurückliegen- den Jahren in Sachsen-Anhalt der Abwärtstrend in der Anzahl der noch vom Edelkrebs besiedelten Gewässer weiter fortgeschritten ist (LAU 2009), wird die Art bei einer Überarbeitung der Roten Liste gleichwohl in die höchste Gefährdungsstufe einzuordnen sein. Edelkrebs (Astacus astacus) auf nächtlicher Nahrungssuche in einem natürlichen Fließgewässer. 1996, Foto: S. Ellermann. 589 größeren Reproduktionspotenzial des Kamberkrebses herleiten lässt (Hofmann 1980), ist heute nur schwer zu klären. Wie das Beispiel des Bielener Sees in Nordthü- ringen belegt, ist der Kamberkrebs grundsätzlich auch ohne Krebspestgeschehen und allein aufgrund von Verdrängung durch ökologische Konkurrenz befähigt, Edelkrebsbestände binnen weniger Jahre zu liquidie- ren (Schmalz 2008). Auf Verschmutzung und Ausbau seines Wohngewässers reagiert der Edelkrebs ohnehin empfindlicher als der inzwischen in den Niederungs- fließ-, Teich- und Abgrabungsgewässern Sachsen-An- halts weit verbreitete Kamberkrebs. Zahlenmäßig wird der Kamberkebs heute in der Elbe und ihren Nebenflüssen jedoch deutlich von der Chine- sischen Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis) übertrof- fen. Diese europäische Neubürgerin wurde vermutlich im Larvenstadium mit Ballastwasser von Schiffen aus Südostasien aus dem Gelben oder Ostchinesischen Meer eingeschleppt. Das von jahresperiodischen Wanderun- gen geprägte Auftreten der Wollhandkrabbe ist an der Unterelbe seit 1922 bekannt. Im mittleren Elbeabschnitt gelang 1926 ein im Magdeburger Naturkundemuseum ausgestellter Erstnachweis (MRLU 1997). Die Bestands- zahlen der flussaufwärts wandernden Jungkrabben un- terlagen in der Vergangenheit mehrfach erheblichen Schwankungen. Neben der von Niederschlägen und Wasserstand der Fließgewässer abhängigen Einwan- derungsquote setzte mit Beginn der 1950er Jahre ein nachhaltiger Bestandsrückgang aufgrund massiver Ge- wässerverschmutzung ein. Erst nachdem etwa 30 Jah- re später die Schadstofffracht reduziert wurde, kam es erneut zu Massenwanderungen der Wollhandkrabben (Paepke 1984). Mit der nachhaltigen Verbesserung der Gewässergüte ab 1990/91 sind die Faunenfremdlinge wieder millionenfach in der Elbe und deren Zuflüssen unterwegs. Traditionell ist die Havel besonders stark besiedelt, aber auch aus Saale, Mulde und Schwarzer Elster sind die Chinesischen Wollhandkrabben vielfach belegt. Bei den Flussfischern ist der Neubürger aufgrund seines Schadpotenzials gefürchtet. Schließlich werden gefangene Fische, Fanggeräte und die gesamte Biozöno- se geschädigt. In der Havel haben die Wollhandkrabben im Rahmen einer Nahrungs- und Raumkonkurrenz bzw. eines regelrechten Räuber-Beute-Verhältnisses zur spürbaren Verringerung der Bestände des Kamberkreb- ses geführt. Die in vielen Fließgewässern ursprünglich vom Edelkrebs besetzte Nische wird gegenwärtig von den beiden allochthonen Dekapoden umkämpft. Eine dauerhafte Verdrängung der einen oder anderen Art wird jedoch kaum stattfinden, da beide über ein großes Vermehrungspotenzial und eine hohe Resistenz gegen- über anthropogener Umweltbelastung verfügen. Als vorletzte allochthone Dekapodenart unserer Gewässer ist die Süßwassergarnele (Atyaephyra des- maresti) anzuführen. Ursprünglich in Gewässern der 590 mediterranen Länder beheimatet, wurde auch sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts eingeschleppt. Auf- grund ihrer Körpergröße von nur rund 3 cm und der bei den „Großkrebsen“ einmaligen Durchsichtigkeit des Körpers sind über Einbürgerung und Arealausweitung nur wenige Hinweise auffindbar. Erstmalig wurde die Art im Oberrhein entdeckt. Von dort hat sie sich über Kanäle und natürliche Fließgewässer inzwischen bis in den Berliner Raum ausgebreitet. Zu den langjährig und traditionell besiedelten Gewässern zählen in Sachsen- Anhalt der Mittellandkanal und die Havel. Der Marmorkrebs (Procambarus fallax f. virginalis) ist als jüngstes allochthones Faunenelement in Sach- sen-Anhalt erstmals im Jahr 2010 im Saalekreis durch Abwanderung aus einem Dorfteich bekannt geworden (Wendt 2010) und folgt hier einem europaweit zu be- obachtenden Trend zur Ausbreitung (Chucholl et al. 2012). Als weltweit einziger sich parthenogenetisch ver- mehrender zehnfüßiger Krebs besitzt der Marmorkrebs ein gewaltiges Vermehrungspotenzial. Die ursprünglich in der Aquaristik überwiegend als Futtertiere gehalte- nen Marmorkrebse sind bereits im 1. Lebensjahr ver- mehrungsfähig (Edelkrebse ab 4., vereinzelt 3. Lebens- jahr!) und können fortan in ca. achtwöchigem Intervall 40–250 unbefruchtete Eier produzieren, aus denen sich ab dem 4. Monat wiederum reproduzierende Weibchen entwickeln. Wie die anderen amerikanischen Fluss- krebse kann auch der Marmorkrebs als Überträger des Krebspesterregers fungieren und stellt daher eine weite- re Gefahr für die Restvorkommen des Edelkrebses dar. Trotz mehrjähriger Bemühungen konnte die Pionier- besiedlung im Saalekreis bislang nicht gänzlich ausge- rottet werden (Wendt 2013). Eine weitere Ausbreitung ist allerdings auch nicht erfolgt. Die nähere Zukunft wird zeigen, ob die eingeleitete biologische Bekämp- fung durch Aalbesatz allein zur Ausrottung der Mar- morkrebse führen kann oder schlussendlich doch noch Maßnahmen mit einem rechtlich nicht unumstrittenen Chemikalieneinsatz ergriffen werden müssen. Kamberkrebs (Orconectes limosus). Aquariumaufnahme, 2013, Foto: W. Wendt. Krebse (Decapoda: Atyidae, Astacidae, Grapsidae) Literatur Albrecht, H. (1983): Besiedlungsgeschichte und ur- sprünglich holozäne Verbreitung der europäischen Flußkrebse. – Spixiana (München) 6: 61–77. Blab, J.; Nowak, E.; Trautmann, W. & Sukopp, H. (Hrsg.) (1984): Rote Liste der gefährdeten Tiere und Pflanzen in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage. – Kilda, Greven, 270 S. Bundesartenschutzverordnung vom 16. Februar 2005 (BGBl. I S. 258, 896). Chucholl, C.; Morawetz, K. & Gross, H. 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(1989) N N N N N Synonym, Deutscher Name Astacus fluviatilis F. 1775; Edelkrebs MRLU (1997) Galizischer Sumpfkrebs Glauche & Süßwassergarnele Kratz (2003) Paepke (1984) Chinesische Wollhandkrabbe LAU (2009) Cambarus affinis (Say, 1817); Kamberkrebs Wendt (2010) Marmorkrebs 591
Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
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Language: Deutsch
Issued: 2016-12-28
Modified: 2016-12-28
Time ranges: 2016-12-28 - 2016-12-28
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