Description: Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt Halle, Heft 1/2020: 411–417 21 Bearbeitet von Karin Voigtländer, E. Norman Lindner & Peter Decker (2. Fassung, Stand: August 2019) Einleitung Die stammesgeschichtlich sehr alte Tierklasse der Dop- pelfüßer (Diplopoda, auch Tausendfüßer i. e. S.) wird mit drei weiteren Klassen, den Hundertfüßern (Chilo- poda), den Wenigfüßern (Pauropoda) und den Zwerg- füßern (Symphyla) zur Gruppe der Myriapoda (Viel- füßer, auch Tausendfüßer i. w. S.) zusammengefasst. Obwohl den Myriapoden, unter ihnen speziell den Diplopoda als saprophager Tiergruppe, wie auch den räuberischen Chilopoda, eine entscheidende Rolle im Ökosystem Boden bzw. der Bodenoberfläche zuerkannt wird und auch ihre bioindikatorische Verwendbarkeit aufgrund von besonderen Habitatpräferenzen bekannt ist, spielten sie bislang bei naturschutzfachlichen Fragen oder gar in den Roten Listen eine untergeord- nete bzw. gar keine Rolle. Nachdem in Deutschland der Schutz des Bodens als Lebensraumes für Menschen, Tiere und Pflanzen durch das Bundesbodenschutzge- setz ausdrücklich gesichert ist und die Erhaltung der Vielfalt und Funktion der Boden-Lebensgemeinschaf- ten gefordert wird, bestand umso mehr Grund und Notwendigkeit, die hierfür notwendige Datenbasis zu erarbeiten und zu bewerten. So konnten sich die Diplopoda erstmals in den Roten Listen Deutschlands etablieren (Reip et al. 2016). Die Länder Baden-Würt- temberg (Spelda 1998), Bayern (Spelda 2004) und Sach- sen-Anhalt (Voigtländer 2004) haben dabei in gewisser Hinsicht eine „Vorreiterrolle“ übernommen, da hier frühzeitig erkannt wurde, dass auch Bodenorganismen durch Experten naturschutzfachlich zu bearbeiten und in Monitoringprogramme einzubeziehen sind. Seit 1994 werden durch das Landesamt für Umweltschutz Sachsen-Anhalt die Diplopoden in einem landesweiten Erfassungsprogramm der Tierwelt gefährdeter Bio- toptypen mit bearbeitet. Im Resultat konnten neben mehreren Publikationen (z. B. Voigtländer 2000, 2003a, b) auch die erste Rote Liste der Diplopoda für Sachsen- Anhalt erarbeitet werden (Voigtländer 2004). Seitdem hat sich die Datenbasis durch eine Vielzahl von Unter- suchungen erheblich verbessert, nicht zuletzt auch durch die Einbeziehung weiterer Fangmethoden (bis- lang kam fast ausschließlich Material aus Bodenfallen zur Auswertung), was auch zu einigen Veränderungen in der neuen Roten Liste führt. Datengrundlagen Obwohl die myriapodologische Erforschung Sachsen- Anhalts voranschreitet, ist die Datenbasis im Gegen- Doppelfüßer (Diplopoda) satz zu vielen traditionell in Roten Listen geführten Taxa immer noch gering und genaue Aussagen über Bestands- oder Arealveränderungen sind nach wie vor nur teilweise anhand der besiedelten Biotop- typen möglich. Seit der letzten Fassung der Roten Liste (Stand: Februar 2004) erfolgten mehrere öko- faunistische Untersuchungen zur Naturausstattung ausgewählter Gebiete des Landes Sachsen-Anhalt (Voigtländer 2008, 2015; Voigtländer & Lindner 2010, 2012; Voigtländer & Decker 2014, 2018) sowie auch die Erstellung einer ersten Gesamtartenliste der Diplopoden für dieses Bundesland (Voigtländer 2009). Der aktuellen Roten Liste ging eine umfangreiche Analyse der Bestandssituation der einzelnen Arten voraus (Voigtländer 2016). Es konnten 48 im Freiland etablierte Arten nachgewiesen werden, womit der derzeitige Erfassungsgrad der Diplopoda als sehr gut einzuschätzen ist. Durch diese Veröffentlichung und die Einbeziehung weiterer aktueller Daten aus mehreren Projekten (unveröff. Daten Sammlung Lindner, Lindner 2019a, b) ergab sich eine sehr gute Basis für die Aktualisierung und Fortschreibung der Roten Liste. Die Zusammenstellung der Daten und Auswertung erfolgte mithilfe der bodenzoologischen Datenbank „Edaphobase“, GBIF Informationssystem für Taxonomie, Literatur und Ökologie (open access; www.edaphobase.org, Burkhardt et al. 2014), die vom Senckenberg Museum für Naturkunde Görlitz speziell für Bodentiere entwickelt wurde und für die Myria- poden nahezu alle Literatur- und Sammlungsangaben aus Deutschland enthält. An ausgewerteten Sammlungen waren das für Sachsen-Anhalt speziell die Sammlungen des Sen- ckenberg Museums für Naturkunde Görlitz, des Mu- seums für Naturkunde Berlin sowie die Privatsamm- lung Lindner. Insgesamt wurden ca. 600 Standorte mit ca. 10.000 Einzelbeobachtungen berücksichtigt. Be- züglich der Nomenklatur und der Bestimmungswerke sei auf die Angaben in der Roten Liste und Gesamtar- tenliste Deutschlands verwiesen (Reip et al. 2016). Einstufungskriterien Die Definition der Gefährdungskategorien erfolgt nach Schnitter (2004). Zur Bewertung und Einstufung des Gefährdungsgrades der Arten wird neben deren Häufigkeit (Fundortzahlen) und der Verbreitung im Gebiet auch die Bindung an ihren Lebensraum sowie die Flächenentwicklung bzw. der Gefährdungsstatus der bewohnten Habitate (siehe Schuboth & Peterson 2004) mit berücksichtigt. Für die Einschätzung der Bestandssituation er- folgt eine Einstufung in die Häufigkeitsklassen über die Anzahl der Vorkommen: es – 1– 4 Fundorte; ss – 411 Doppelfüßer Tab. 1: Übersicht zum Gefährdungsgrad der Doppelfüßer Sachsen-Anhalts. Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) 0 - - Gefährdungskategorie R 1 2 2 - 5 4,2 - 10,4 5 –20 Fundorte, selten – 21–100 Fundorte, häufige bis sehr häufige Arten – > 100 Fundorte. In der Kategorie R werden extrem seltene Arten zusammengefasst, die nur wenige, aber stabile, räumlich getrennte Populationen in Sachsen-Anhalt aufweisen. Bemerkungen zu ausgewählten Arten Die beiden gegenüber der Checkliste (Voigtländer 2009) für Sachsen-Anhalt neuen Arten, Anamastigo- na pulchella (Silvestri, 1898) und Leptoiulus trilobatus (Verhoeff, 1894), werden als nicht etabliert angese- hen und gehen damit nicht in die Analyse der Daten ein. Die ursprünglich aus Süditalien stammende Art A. pulchella wurde bisher in Deutschland einzig am Rastplatz Dreihöhenberg (bei Eickendorf) an der Bundesautobahn A14 gefunden (Lindner et al. 2010). Eine 2014 durchgeführte Nachsuche bestätigte das weitere Bestehen der Population. Der einzige Nach- weis für L. trilobatus aus Sachsen-Anhalt stammt aus der Wörlitzer Elbeniederung, wo die Art in einer schwachen Humusschicht auf Spülsand gefunden und möglicherweise von ihren Siedlungsgebieten am Oberlauf der Elbe (Südost Sachsen, Böhmen) dorthin verdriftet wurde (Voigtländer 2016). Brachychaeteuma bradeae (Brölemann & Brade-Birks, 1917) Die Vorkommen von B. bradeae beschränken sich in Sachsen-Anhalt auf Höhlen, die aktuell nicht neu be- probt wurden, so dass über die derzeitige Bestandssi- tuation nichts ausgesagt werden kann und der „alte“ RL-Status „R“ beibehalten wird. Die Art ist in Deutsch- land sehr selten (Reip et al. 2012, 2016). Cylindroiulus arborum Verhoeff, 1928 Aus der östlichen Hälfte Sachsen-Anhalts liegen 5 Nachweise dieser Art vor, die im Gebiet ihre nord- westliche Verbreitungsgrenze erreicht. Sie lebt bevor- zugt im Mulm und unter Rinde abgestorbener Bäu- me, in Baumstubben etc. Da viele Untersuchungen in vergleichbaren Habitaten durchgeführt wurden, kann nicht von einem methodisch bedingten Nachweis- defizit ausgegangen werden. Die Art wird daher in die Kategorie 3 eingestuft. Cylindroiulus latestriatus (Curtis, 1845) C. latestriatus ist bisher nur von sieben Standorten in Sachsen-Anhalt bekannt und damit sehr selten. 412 3 3 6,3 Rote ListeGesamt 10 20,848 Die Art bevorzugt Offenlandstandorte auf sandi- gen Böden und besiedelt oft als einziger Diplopode Sanddünen der Küstengebiete und des Binnenlandes. Entsprechend kommt sie in Sachsen-Anhalt insbeson- dere auf den Sandtrockenrasen von Truppenübungs- plätzen vor. Ihr Vorzugshabitat gehört mit zu den gefährdeten Lebensräumen, so dass damit einher- gehend C. latestriatus als stark gefährdet angesehen wird und die Einstufung in die Kategorie 2 erfolgt. Glomeris tetrasticha Brandt, 1833 Bisher war G. tetrasticha nur aus dem Harz und des- sen Vorland bekannt. Intensive Untersuchungen in Feuchthabitaten erbrachten erfreulicherweise meh- rere Nachweise auch außerhalb dieses Gebietes. Der allgemeine Rückgang von Feuchthabitaten bedeutet aber auch einen Rückgang der Art. Sie wird daher von R auf 3 gestuft. Julus scanicus Lohmander, 1925 Die Art J. scanicus weist ein disjunktes Verbreitungs- gebiet auf, dessen Nordareal sich von Südschweden über Dänemark bis Nordostdeutschland erstreckt. Die südliche Arealgrenze verläuft entlang einer Linie etwa durch die Mitte Sachsen-Anhalts und Branden- burgs. Ihr Südareal erstreckt sich von Tschechien, Ostösterreich, der Slowakei bis Ungarn. Die Art kommt vor allem in Feuchtgebieten, seltener aber auch auf Trocken- und Sandtrockenrasen vor. Da sich die Anzahl der Fundnachweise infolge der Intensi- vierung der Aufsammlungen in feuchten Biotopen merklich erhöht hat, kann ihre Häufigkeit in den Flusslandschaften von Elbe und Mulde nunmehr mit mäßig häufig eingestuft werden. Gerade diese Lebensräume gehören jedoch zu den gefährdeten Biotoptypen Sachsen-Anhalts (Schuboth & Petersen 2004), wodurch auch die Populationen von J. scani- cus langfristig gefährdet sind. Aufgrund des be- schränkten Verbreitungsgebietes wirken sich hier Habitatverluste wesentlich stärker aus. Die Art wird daher aus der Kategorie D in die 2 hochgestuft. Leptoiulus cibdellus (Chamberlin, 1921) Diese östlich verbreitete Art erreicht in Sachsen-An- halt ihre nordwestliche Arealgrenze. Mit nur 6 Nach- weisen ist sie sehr selten. Ihre Vorkommen auf Sand- trockenrasen, aber auch in Auwäldern und Röhrichten lassen noch keine klare Aussage über ihre Habitat- bindung zu. Ihr Vorkommen in gefährdeten Biotop- Doppelfüßer 1 2 Abb. 1: Den Saftkugler Glomeris tetrasticha kann man gut an den vier hellen Fleckenreihen erkennen und mit einigem Glück in feuchten Laubwäldern antreffen (Foto: H. Hauser). Abb. 2: Der kleine, maximal 19 mm messende, hell gefärbte Schnurfüßer Cylindroiulus latestriatus ist einer der wenigen Doppelfüßer, die bevorzugt auf Sandböden vorkommen (Foto: H. S. Reip). . typen und ihre Seltenheit an der Verbreitungsgrenze sprechen für eine Einstufung in die Kategorie 2. Megaphyllum unilineatum (C. L. Koch, 1838) Diese Art gilt als ausgesprochen wärmeliebend und bevorzugt offene Standorte. In Sachsen-Anhalt kommt sie ausschließlich auf Trockenrasen und deren Sukzessionsstadien, Säumen und angrenzenden Ackerflächen sowie seltener in Zwergstrauchheiden vor. Mittlerweile sind aufgrund der gezielten Bepro- bung von Trockenhabitaten von der Art 32 Standorte bekannt, was etwas über 30 % der Gesamtfundorte in Deutschland entspricht. Sie ist im Osten und Süden Deutschlands verbreitet und erreicht in Sachsen-An- halt ihre Nordwestgrenze. Auf Grund der Restriktion auf gefährdete Biotoptypen wird die Art in die Ge- fährdungsstufe 2 eingegliedert. Nopoiulus kochii (Gervais, 1847) Die Art ist in Deutschland weit verbreitet, aber selten. Ursprünglich vermutlich aus Osteuropa stammend, kommt sie in Deutschland, wie auch in Sachsen-An- halt, fast ausschließlich an synanthropen Standorten vor (9 Standorte). Daher wird sie als nicht heimische Art von der Bewertung in der Roten Liste ausgeschlos- sen. Propolydesmus germanicus (Verhoeff, 1896) Die Art P. germanicus ist besonders im Rheinland und Rhein-Main-Gebiet verbreitet. Der Fund eines Männchens auf einem Trockenrasen im NSG „Tote Täler“ bei Naumburg stellt den östlichsten Nachweis dieser Art dar (Voigtländer 2000). Sie ist sehr wenig an der Bodenoberfläche aktiv, so dass sie mit Boden- fallen nur schwer nachweisbar ist und auf Grund ihrer geringen Größe bei Handaufsammlungen leicht übersehen werden kann. Mit dem Verschwinden des bisher einzigen Fundortes in Sachsen-Anhalt wäre die Art innerhalb des Bundeslandes vom Aussterben bedroht. Sie wird deshalb mit R „extrem selten mit geographischer Restriktion“ eingestuft. Propolydesmus testaceus (C. L. Koch, 1847) Die Art erreicht in Sachsen-Anhalt im Saale-Un- strut-Triasland ihre nordöstliche Verbreitungsgrenze (Voigtländer 2008, Hauser & Voigtländer 2019) und ist hier am Rande ihres Areals mit nur sieben Nachwei- sen sehr selten. Sie wird deshalb in die Kategorie 3 eingestuft. Xestoiulus laeticollis (Porat, 1889) Bisher konnte X. laeticollis von 9 Standorten des Bundeslandes nachgewiesen werden. Die Art kommt in Deutschland nur im Nordosten vor und erreicht in Sachsen-Anhalt ihre westliche Verbreitungsgrenze. Sie ist hier ausschließlich auf Au- und Bruchwälder, beides gefährdete Biotoptypen (Schuboth & Petersen 2004), beschränkt. Daher wirken sich Habitatverlus- te bei ihr besonders drastisch aus. X. laeticollis wird demzufolge mit dem Gefährdungsgrad 2 eingestuft. 413
Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
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Language: Deutsch
Issued: 2020-08-31
Modified: 2020-08-31
Time ranges: 2020-08-31 - 2020-08-31
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