Description: Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt Halle, Heft 1/2020: 749–768 61 Bearbeitet von Karla Schneider und Wolfgang Bäse (3. Fassung, Stand: Mai 2020) Einführung Die Curculionoidea sind eine weltweit verbreitete Überfamilie der Ordnung der Käfer. Zu ihr gehören neben den Rüsselkäfern (Curculionidae) und den Borkenkäfern (Scolytidae) eine Reihe von Familien, die früher als Teil der Rüsselkäfer betrachtet worden sind. Gegenwärtig sind es die Familien der Blattroller (Atte- labidae), der Ritterspornrüssler (Nemonychidae), der Triebstecher (Rhynchitidae) und der Spitzmausrüssler (Apionidae). Die Familie der Breitrüssler (Anthribidae), in der letzten Roten Liste des Landes Sachsen-Anhalt (Schneider 2004a) noch extra abgehandelt, wird nun innerhalb dieser Überfamilie betrachtet. Die Borken- käfer (Scolytidae) dagegen werden in dieser Fassung der Roten Liste nicht berücksichtigt. In der Checkliste von Sachsen-Anhalt sind 85 Borkenkäferarten erfasst (Bäse 2018b). Die Überfamilie der Curculionoidea um- fasst weltweit über 62.000 Arten, davon allein mehr als 51.000 Arten in der Familie der Rüsselkäfer. Nach Rheinheimer & Hassler (2010) sind die Rüsselkäfer eine Gruppe der Superlative. Sie sind wahrscheinlich die artenreichste Familie im Tier- und Pflanzenreich. Man nimmt an, dass bei den Rüsselkäfern noch viele unbe- schriebene Arten existieren. Die tatsächliche Arten- zahl liegt vermutlich um ein Vielfaches höher. In Mitteleuropa sind die Rüsselkäfer (ohne Borken- käfer) mit etwa 1.200 Arten vertreten, davon konnten in Sachsen-Anhalt bisher 752 Arten belegt werden. Rüsselkäfer besiedeln fast alle Lebensräume. Man kann sie vom arktischen Norden bis zu den Tropen finden. Sie leben im Boden, am Boden, auf Pflanzen, in Stängeln und Samen, unter der Rinde, manche Ar- ten auch im Wasser an Wasserpflanzen oder in tiefen Bodenschichten. Die zuletzt genannten Vertreter sind blind und leben an Wurzeln. Sie sind kaum an der Oberfläche zu finden (Rheinheimer & Hassler 2010). Der große Artenreichtum und die spezielle Lebensweise vieler Arten macht sie zu einem bedeutenden Faktor in den Ökosystemen und Nahrungsketten. Auf der an- deren Seite ist es die Lebensweise, die es erschwert, sie in ihren Habitaten nachzuweisen. So sind zahlrei- che Arten oft nur direkt und zu bestimmten Jahres- zeiten an der Entwicklungspflanze zu finden. Häufig leben sie versteckt bzw. sind dämmerungs- oder nachtaktiv. Viele sind unauffällig gefärbt, dadurch schlecht sichtbar bzw. lassen sich bei Berührung der Pflanzen fallen. Rüsselkäfer leben phytophag und ernähren sich von allen Pflanzenteilen einschließlich lebendem und totem Holz. Es gibt nur wenige Pflanzenarten Rüsselkäfer (Coleoptera: Curculionoidea exkl. Scolytidae) in unserem Gebiet, die von diesen Käfern nicht be- fallen werden. Einzelne Arten sind hoch spezialisiert und können nur an einer einzigen Pflanzenart leben. Rüsselkäfer besiedeln auch Extremhabitate wie aride Zonen (Cleonus-Arten), Salzstellen (Sitona-, Ceutor- hynchus-Arten) und stehende Gewässer (Litodacty- lus-, Eubrychius-, Stenopelmus-Arten). Sie kommen auch artenreich in den Randzonen von Hochmooren, in lichten Bereichen von Wäldern, in Trocken- und Halbtrockenrasen, in Wiesen und in Brach- und Ru- deralflächen vor. Somit stellen sie spezielle Ansprü- che an ihren Lebensraum und eignen sich gut für die Landschaftsbewertung, z. B. im Rahmen von Umwelt- verträglichkeitsprüfungen. Besonders hygrophile und aquatische Arten sind sehr anspruchsvoll. Sie haben eine ähnlich hohe Bedeutung als Indikatoren wie die Schilfkäfer (Sprick & Winkelmann 1993). Häufigkeitsschwankungen oder ein Rückgang von Arten sind bei den wenig bearbeiteten Rüsselkäfern ebenso schwer zu bewerten wie die Frage nach den anthropogenen oder natürlichen Ursachen. Rheinhei- mer & Hassler (2010) nennen einige wichtige Faktoren wie Temperaturschwankungen, Niederschläge, Nah- rungsangebot, Krankheiten, Parasiten und Fraßfeinde, die für eine Beurteilung beachtet werden müssen. Zur taxonomischen Systematik der Rüsselkäfer gibt es derzeit keine einheitliche Auffassung. Das be- trifft auch die Anerkennung selbständiger Familien (vgl. Rheinheimer & Hassler 2010). Familie Anthribidae Billberg, 1820 – Breitrüssler Die Breitrüssler sind mit weltweit etwa 4.000 Arten eine gut abgegrenzte Gruppe und wurden schon früh als Schwesterngruppe der Rüsselkäfer betrachtet. Die Mehrzahl der Arten ist in den Tropen verbreitet und zeichnet sich hier durch einen großen Formenreichtum aus. Einige Arten ähneln durch schlanken Körperbau und lange Fühler den Cerambyciden, andere erinnern an Chrysomeliden oder an Curculioniden, da sie einen gut ausgebildeten Rüssel besitzen. Ähnlichkeiten be- stehen auch zu den Scolytiden und Bruchiden. In Europa sind die Breitrüssler nur mit ca. 60 Ar- ten vertreten. Sie sind unauffällig mit einer geringen Formenvielfalt. Rheinheimer & Hassler (2010) nehmen an, dass die europäischen Arten Relikte einer früher artenreicheren Fauna sind. Für Sachsen-Anhalt konn- ten bisher 14 Arten registriert werden. Die größte Art Platyrhinus resinosus erreicht eine Länge von 15 mm. Heimische Arten entwickeln sich vor allem in Stümp- fen und Ästen abgestorbener und von Pilzen befalle- ner Bäume und Sträucher. Die Larven fressen unregel- mäßige Gänge in das Holz und verpuppen sich auch hier. Die Gattung Brachytarsus weicht von dieser Ent- wicklung ab. Die Larven der Gattung fressen Schild- und Blattläuse und entwickeln sich unter loser Rinde, 749 Rüsselkäfer Abb. 1: Der Weiße Breitrüssler (Platystomos albinus) ist in großen Teilen Europas zu finden. Die Art gilt auch in Deutschland als weit verbrei- tet, ist aber aufgrund seiner guten Tarnung nicht leicht zu finden (Foto: A. Stark). wo auch ihre Verpuppung stattfindet. Da die Färbung der Breitrüssler oft ihrer verpilzten Umgebung ent- spricht, sind die Tiere meist sehr schwer zu finden. Familie Attelabidae Billberg, 1820 – Blattroller Weltweit ist diese Familie mit ca. 1.000 Arten verbrei- tet und besitzt eine der bizarrsten Rüsselkäferarten überhaupt, den Giraffenrüssler aus Madagaskar. Bei dieser Art weisen die Weibchen ein extrem verlänger- tes Halsschild auf. Andere tragen eine leuchtend rote Warnfarbe. Typisch für Blattroller ist die Brutfürsorge. Die Weibchen stellen Blattwickel her, in denen die Eier abgelegt werden. Familie Nemonychidae Bedel, 1882 – Ritterspornrüssler Diese Familie enthielt ursprünglich nur eine Gattung. Neben unserer mitteleuropäischen Art gibt es noch zwei in Nordafrika und eine in Mittelasien. Als Wirts- pflanzen sind zurzeit nur Rittersporn-Arten bekannt. Da durch die intensive landwirtschaftliche Nutzung von Ackerflächen der Rittersporn seltener wird, ist die mitteleuropäische Art stark gefährdet, ihr Fort- bestand unsicher. Die ehemalige Familie Cimberidae Gozis gehört jetzt ebenfalls hierher. In diese kleine und artenarme Gruppe fallen weltweit nur fünf Gattungen mit ca. 15 Arten. Alle Arten entwickeln sich auf Nadelbäumen. In Deutschland kommen zwei Arten vor. Beide leben an Blütenständen von Waldkie- fern (Pinus sylvestris L.). Sie sind weit verbreitet, aber nicht häufig. Familie Rhynchitidae Gistel, 1848 – Triebstecher Nach Rheinheimer & Hassler (2010) existiert die größte Artenvielfalt in Südostasien. Viele Pflanzenfamilien und fast alle Pflanzenteile werden genutzt. Es gibt Brutfürsorge, aber auch Brutparasitismus. Triebste- cher gehören zu einer stammesgeschichtlich alten Familie. Funde aus dem Jura und dem baltischen Bernstein (Eozän) belegen dies. Familie Apionidae Schönherr, 1823 – Spitzmausrüssler Über 1.500 Arten können weltweit zu dieser Familie gezählt werden. Es sind sehr kleine, nur bis etwa 4 mm große Käfer mit recht einheitlichem Aussehen. Der Rüssel läuft vorn spitz zu. Nach hinten werden die Käfer allmählich dicker und zeigen ein birnenför- miges Aussehen. Die meisten Arten leben an krau- tigen Pflanzen, einige wenige an Baumarten. Viele unserer Arten sind Nahrungsspezialisten. Sie fressen monophag an einer Pflanzenart oder oligophag an einer Pflanzengattung. Die meisten Arten sind auf Fabaceae (Leguminosen) und Asteraceae (Korbblütler) zu finden. Sie minieren im Pflanzengewebe, einige erzeugen Pflanzengallen. Gelegentlich können einige Spezies als Schädlinge auftreten und pflanzliche Viren Abb. 2: Der Adern-Bohrer (Curculio venosus) kann in Mitteleuropa überall beobachtet werden. Er liebt wärmere Gebiete und tiefere Lagen. Seine Wirtspflanzen sind verschiedene Eichenarten. Die Larven entwickeln sich in den Eicheln, wo sie zweimal überwintern und die Käfer dann zwischen Mitte April und Juli zu beobachten sind (Foto: S. Schönebaum). Abb. 3: Der Rebenstecher (Byctiscus betulae) glänzt goldgrün, violett oder metallisch blau. In Europa ist die Gattung Byctiscus nur mit zwei Arten vertreten. Die Weibchen betreiben Brutfürsorge, in dem sie Blätter zu einem Wickel zusammenrollen, der den Larven als Nahrung dient. (Foto: S. Schönebaum). Abb. 4: Der seltene aquatisch lebende Rüsselkäfer Bagous majzlani entwickelt sich nach bisherigem Kenntnisstand ausschließlich an Wasser-Schwaden (Glyceria maxima). Nach gut 130 Jahren wurde die Art im Frühjahr 2020 im Wulfener Bruch wiederentdeckt (Foto: D. Rolke). Abb. 5: Der Westliche Möhrenrüssler (Leucophyes pedestris) wird nur selten gefunden. Die Art bevorzugt wärmere Gebiete, wie sonnige Magerrasen oder xerotherme lückige be- wachsene Stellen. Für Sachsen-Anhalt wird sie als stark gefährdet eingestuft und ist nur ganz im Süden des Bundeslandes nachweisbar. Die Futterpflanze der Art ist die wilde Möhre (Foto: D. Rolke). Abb. 6: Der Gefleckte Langrüssler (Cyphocleonus dealbatus) ist in Sachsen-Anhalt weit verbreitet. Die Larven bilden Gallen an den Wurzeln von Asteraceen. Durch ihre grau marmorierte Oberseite mit schwarzen Kahlstellen sind die Käfer auf ihren Wirtspflanzen gut getarnt. Die Art ist typisch für sonnige, warme und offene Böden (Foto: S. Schönebaum). 750 Rüsselkäfer 2 3 4 5 6 751
Origin: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
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Language: Deutsch
Issued: 2020-08-31
Modified: 2020-08-31
Time ranges: 2020-08-31 - 2020-08-31
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