Description: Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt Halle, Heft 1/2020: 891–894 74 Bearbeitet von Andreas Arnold (1. Fassung, Stand: Oktober 2019) Einführung Die Stelzfliegen (in älteren Veröffentlichungen auch Tylidae genannt) sind in Deutschland mit nur 13 Arten vertreten, in Europa nach Soós (zit. bei Merz 1997) mit 21 Arten. Weltweit sind bisher mindes- tens 450 Arten bekannt (Stark 1999). Die heimischen Micropeziden sind 4 bis 9 mm lange, schlanke Fliegen von hellbrauner bis schwarzer Grundfärbung. Auf- fallende Merkmale sind ihre überproportional langen Beine und die mehr oder weniger bizarr gestalteten männlichen Kopulationsorgane. Ein charakteristi- sches Unterscheidungsmerkmal von anderen Dipte- ren-Familien ist der auffällig große Abstand zwischen dem vordersten und den eng beieinander stehenden hinteren beiden Beinpaaren. Die Flügel sind bei den meisten Arten farblos, bei Rainieria dunkel gebändert. Die Flügeladerung unterscheidet sich von anderen Acalyptrata durch eine vollständige Costa und eine selbständig in die Costa mündende Subcosta. Die meisten Stelzfliegen-Arten bewohnen Le- bensräume mit relativ hoher Luftfeuchte. Man findet sie daher vor allem in Gebieten mit hohem Grund- wasserstand, in den Tälern von Fließgewässern oder in Ufernähe stehender Gewässer. Bevorzugter Lebens- raum ist die Krautschicht naturnaher Laubwälder, vor allem von Auwäldern. Einige Arten besiedeln auch staudenreiche Frisch- und Feuchtwiesen. Die Arten der Gattung Micropeza bewohnen mehr offenere, trockenere Lebensräumen, wie Wiesen, Weg- und Feldränder, wo sie beispielsweise gerne auf Brom- beergebüsch sitzen. Imagines mitteleuropäischer Stelzfliegen kann man von Ende April bis einschließ- lich September finden. Hauptflugzeit der meisten Arten ist je nach Witterung etwa Mitte Mai bis Ende Juni, bei Rainieria Juni bis Juli. Günstig für den Schlupf sind Wärme und hohe Luftfeuchtigkeit. Manche Ar- ten, beispielsweise Calobata petronella, sind vielleicht deshalb in Mitteldeutschland in den niederschlags- reicheren Mittelgebirgen häufiger anzutreffen. In warmen und trockenen Sommern wie beispielsweise 2018 sind weniger Stelzfliegen zu finden. Die Imagines laufen „gravitätisch stelzend“ auf der Oberfläche breitblättriger Stauden umher und flüchten bei Störungen mit Sprungflügen über relativ kurze Distanz. Sie stellen kleinen Insekten nach, über- wältigen sie und saugen sie aus (Schumann 1989). Das sind beispielsweise Aphiden, kleinere Dipteren und Zikadenlarven. Rainieria wurde mehrfach an von Pilz- myzel befallenem Totholz beobachtet. Die Larven sind erst von wenigen Arten bekannt und saprophag. Sie Stelzfliegen (Diptera: Micropezidae) sind wie die meisten Dipteren-Larven madenförmig, mit meist glatter Haut (Steyskal 1987). Die Larven von Micropeza corrigiolata nutzen Wurzelknöllchen von Leguminosen als Nahrungsquelle (Müller 1957). Datengrundlagen Die Datengrundlage ist bei dieser wenig beachteten Dipteren-Familie leider sehr karg. Eine für den Unkun- digen schwer zu überwindende Hürde ist es, inner- halb der sehr arten- und formenreichen Ordnung Diptera die Tiere überhaupt einer bestimmten Familie zuzuordnen. Hinzu kommt die geringe Größe und die weit verbreitete Geringschätzung für Fliegen. In den durchgesehenen Museumssammlungen waren Mi- cropeziden nicht oder nur in geringer Zahl vertreten. Das dort vorhandene Belegmaterial ist überwiegend einige Jahrzehnte alt. Fundortangaben sind oft unge- nau oder fehlen, wie beispielsweise in der Sammlung des Zoologischen Instituts der Universität Halle bei den heimischen Stelzfliegen. Nachstehende Sammlungen wurden durchgese- hen: Museum für Naturkunde Chemnitz (G. Fiedler), Staatliches Museum für Tierkunde Dresden (U. Kall- weit), Staatliches Museum für Naturkunde Görlitz (R. Franke), Institut für Zoologie der Universität Halle (K. Schneider), Naturkundemuseum Leipzig (R. Schiller), Sammlung A. Arnold. Streng genommen müßten deshalb fast alle Arten wegen der geringen Datengrundlage mit D be- wertet werden. Andere Arten wie beispielsweise Rai- nieria calceata müßten laut Datenlage als verschollen eingestuft werden, weil keine aktuellen Nachweise vorliegen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit nur am geringen Erforschungsgrad liegt. Zur Einschätzung eines möglichen Gefährdungsgrades wurde daher die Häufigkeit in benachbarten Gebieten nach [Roháček & Barták (1990), Merz (1997), Stuke (2006) und Ar- nold (2006)] mit berücksichtigt. Wenn hier trotz des geringen Erforschungsgrades eine Bewertung dieser Tiergruppe vorgenommen wird, so auch aus der Er- kenntnis heraus, daß vorhandene Rote Listen zur Ver- besserung des Kenntnisstandes anregen und damit die Beschäftigung mit der betreffenden Tiergruppe fördern. Bemerkungen zu ausgewählten Arten Cnodacophora sellata (Meigen, 1826) Nach Stuke (2006) wurde diese Art 2005 im nieder- sächsischen Teil des Harzes dicht an der Grenze zu Sachsen-Anhalt nachgewiesen, im Andreasbergertal/ Leimenztal NW Zorge und im Siebertal 2 km S Sieber. 891 Stelzfliegen Rainieria calceata (Fallèn, 1820): Sie wurde von Dorn (1928) am 19.06.1918 bei Leipzig- Gundorf (in Sachsen, unweit der Landesgrenze) und im Juni und Juli 1927 mehrfach an Rotbuchenstämmen mit Pilzbefall in der Dübener Heide nachgewiesen. Sichere Nachweise für Sachsen-Anhalt liegen, neben den in der Roten Liste benannten Arten für Calobata petronella (Linnaeus, 1761), Micropeza corrigiolata (Lin- naeus, 1767), Neria cibaria (Linnaeus, 1761) und Neria commutata (Czerny, 1930) vor, so dass insgesamt 10 Arten zur Landesfauna zu rechnen sind. 1 Zu erwarten wäre weiterhin das Vorkommen von Cnodacophora stylifera (Loew, 1870), welche aus Niedersachsen (Stuke 2006) und der Tschechoslowa- kei (Roháček & Barták 1990) gemeldet wurde. Aber auch Vorkommen von auf Micropeza brevipennis von Roser, 1840 (Nachweise aus Sachsen s. Arnold (2006), Niedersachsen (Stuke 2006), der Schweiz (Merz 1997) und der Tschechoslowakei (Roháček & Barták 1990) sowie von Micropeza grallatrix Loew, 1868 [Nachweise aus der Schweiz s. Merz (1997)] wären durchaus zu vermuten. Gefährdungsursachen und erforderliche Schutzmaßnahmen 2 3 892 Stelzfliegen findet man (mit Ausnahme von den gele- gentlich auch Ruderalflächen besiedelnden Micrope- za-Arten) fast ausschließlich in naturnahen Habi- taten. Die meisten Arten bewohnen Feuchtgebiete, welche zu den am stärksten bedrohten Biotoptypen gehören. Die Gefährdung der Micropeziden ist daher von der Roten Liste der gefährdeten Biotoptypen ab- zuleiten. Wie bei den meisten Insekten ist bei Micro- peziden als sogenannten r-Strategen der Ökosystem- schutz die effektivste Methode des Artenschutzes. Auch aus pragmatischen Gründen ist der Schutz der Habitate bei den meisten Insekten die praktikabelste Form des Artenschutzes, zumal dadurch ein breites Spektrum von Arten gleichzeitig mit geschützt wer- den kann. Die bevorzugten Habitate der Micropeziden sind in der Roten Liste der gefährdeten Biotoptypen (Schuboth & Peterson 2004) in der Gefährdungskatego- rie 1 bis 3 zu finden. Abb. 1: Männchen der Stelzfliege Neria commutata. Die Art gehört zu den in Sachsen-Anhalt noch an zahlreichen Orten, insbeson- dere strukturreichen, feuchten Säumen oder Hochstaudenfluren anzutreffenden Vertretern der Familie (Foto: A. Arnold). Abb. 2: Typischer Lebensraum von Neria cibaria am Mühlgraben bei Ermlitz (Schkopau). Insbesondere auf den großen Blättern der Kletten kann man die Fliegen finden (Foto: A. Arnold). Abb. 3: Neria longiceps ist eine Wärme liebende Stelzfliegenart, die in Sachsen-Anhalt am Huy und an warmen Hängen in der Bergbaufolgelandschaft, z. B. des Muldestausees (Arnold 2016), vorkommt (Foto: A. Stark). Stelzfliegen Tab. 1: Übersicht zum Gefährdungsgrad der Stelzfliegen Sachsen-Anhalts. Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) 0 1 10,0 Gefährdungskategorie R 1 2 - 1 2 - 10,0 20,0 Die meisten Micropeziden benötigen eine stufen- reiche Staudenflora. Sie sind beispielsweise bedroht durch Überdüngung und zu häufige Mahd, welche Wiesen pflanzensoziologisch verarmen lassen, indem Stauden und Kräuter durch wenige Grasarten wie Glatthafer und Aufrechte Trespe verdrängt werden. Eine weitere Bedrohung resultiert aus dem großflä- chigen Einsatz von Bioziden in der Agrarlandschaft, der sich auch auf für einige Micropeziden potenziell geeignete Habitate wie Feldraine und Hecken nega- tiv auswirkt, insofern diese nicht bereits einer Flur- bereinigung zum Opfer gefallen sind. Großflächige Monokulturen und Biozideinsatz führen zu einer Verarmung der Ackerbegleitflora. Flurbereinigung und ein zu weitmaschiger, unzureichend vernetzter Flickenteppich von Schutzgebieten bewirken Habitat- fragmentierung mit Inselpopulationen und deren Art (wiss.) Cnodacophora sellata (Meigen, 1826) Micropeza lateralis Meigen, 1826 Neria ephippium (Fabricius, 1794 Neria femoralis (Meigen, 1826) Neria longiceps (Loew, 1870) Rainieria calceata (Fallèn, 1820) 3 2 20,0 Rote ListeGesamt 6 60,010 genetische Verarmung durch Generosion. Davon sind Stelzfliegen als Kurzstreckenflieger im Vergleich zu den meisten Dipteren-Gruppen vermutlich über- durchschnittlich betroffen. Auch die gegenwärtige Klimaerwärmung könnte sich aufgrund stärkerer Tro- ckenheit negativ auswirken. Teile von Sachsen-Anhalt sind mit Jahresniederschlägen unter 600 mm bereits relativ trocken und arm an Feuchtgebieten. Danksagung Dank gilt den o. g. Kuratoren der Museumssammlun- gen, die Micropeziden entliehen oder vor Ort Einblick in die Sammlungen gewährten. Ebenso wird Herrn Dr. A. Stark (Halle/S.) für zur Verfügung gestellte Nach- weisdaten gedankt. Kat. 2 0 3 3 1 2 Bem. 1923 01) Nomenklatur nach Stark (1999). Abkürzungen und Erläuterungen/letzter Nachweis/Quelle (Spalte „Bem.“) 01) - 12.08.1923, 1 ♀ leg. Heidenreich, Beleg im Naturkunde- museum Leipzig. Literatur Arnold, A. (2002): Die Stelzfliegen (Diptera: Micrope- zidae) der Sammlung des Naturkundemuseums Leipzig. – Veröffentlichungen des Naturkundemu- seum Leipzig (Leipzig) 21: 71–74. Arnold, A. (2004): Bombyliidae, Conopidae und Mi- cropezidae (Diptera) aus dem Osten des Kreises Bitterfeld/ Sachsen-Anhalt. – Studia dipterologica (Halle) 11(2): 524 –528. Arnold, A. (2006): Kommentiertes Verzeichnis der Stelzfliegen (Diptera: Micropezidae) des Freistaa- tes Sachsen. – Mitteilungen Sächsischer Entomo- logen (Mittweida) 73: 3 – 4. Arnold, A. (2016): Stelzfliegen (Diptera: Micropezidae). Bestandssituation. S. 1104–1105. In: Frank, D. & Schnitter, P. (Hrsg.): Pflanzen und Tiere in Sachsen- Anhalt. Ein Kompendium der Biodiversität. – Natur + Text, Rangsdorf, 1.132 S. Dorn, K. (1928): Zur Lebensweise von Calobata calcea- ta Fall. – Entomol. Jahrb 37: 179. Merz, B. (1997): Die Micropezidae (Diptera) der Schweiz. – Mitteilungen der Schweizerischen En- tomologischen Gesellschaft (Zürich) 70: 93 –100. Müller, H. (1957): Leguminosenknöllchen als Nah- rungsquelle heimischer Micropezidae-(Tylidae-) Larven (Diptera). – Beiträge zur Entomologie 7(3/4): 247–262. Rapp, O. (1942): Die Fliegen Thüringens unter beson- derer Berücksichtigung der faunistisch-oekologi- 893
Origins: /Land/Sachsen-Anhalt/LAU
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Language: Deutsch
Issued: 2020-08-31
Modified: 2020-08-31
Time ranges: 2020-08-31 - 2020-08-31
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