Rote Listen Sachsen-Anhalt
Berichte des Landesamtes für
Umweltschutz Sachsen-Anhalt
39 (2004)
Rote Liste der Raupenfliegen
(Diptera: Tachinidae)
des Landes Sachsen-Anhalt
Bearbeitet von Joachim ZIEGLER
(2. Fassung, Stand: Februar 2004)
Einführung
Die Raupenfliegen sind mit weltweit mehr als 8000
Arten die umfangreichste Familie der Fliegen.
Auch in Mitteleuropa zählen sie zu den besonders
artenreichen Gruppen der Zweiflügler (Diptera).
Aus Deutschland sind gegenwärtig mehr als 500
Spezies bekannt (TSCHORSNIG & ZIEGLER 1998ff)
und in Sachsen-Anhalt wurden bereits 263 Arten
nachgewiesen (ZIEGLER, 1999). Die Zahl der hier
vorkommenden Tachinidae dürfte real jedoch noch
größer sein und sich bei weiterer intensiver For-
schung auf etwa 300-350 Arten erhöhen. Obwohl
der auffallend kräftig beborstete Körper vieler ty-
pischer mittelgroßer Imagines recht einheitlich
eine schwarze Grundfarbe aufweist, die von ei-
ner mehr oder weniger starken grauen Bereifung
bedeckt wird, sind die Raupenfliegen insgesamt
in ihrem Habitus heterogener als viele andere Flie-
genfamilien. So gibt es stark abweichende For-
men, die breit abgeflacht oder zylindrisch langge-
streckt sind, ein borstenloses Abdomen haben und
gelb, rot oder metallisch gefärbt sein können. Auch
die Körpergröße der Imagines ist sehr unterschied-
lich und reicht von knapp 2 bis 20 mm. Sicher er-
kennen lassen sich die Raupenfliegen nur bei stär-
kerer Vergrößerung unter der Lupe oder dem Bi-
nokular. Ihr Merkmal ist der Besitz eines stark
entwickelten konvexen Postscutellums, das sie gut
von den nahe verwandten Familien abgrenzt. Die
Merkmalskombination von deutlichem Postscutel-
lum und entwickelter Hypopleuralborstenreihe
unterscheidet sie auch von anderen Fliegen.
Die Tachinidae sind nicht nur wissenschaftlich in-
teressant, sondern auch aus ökologischer und
ökonomischer Sicht bedeutsam. Viele Arten sind
eifrige Bestäuber, da sie als Imagines zu ihrer
Ernährung den Nektar von Blütenpflanzen benö-
tigen. Mit Ausnahme einiger Tachinen mit verlän-
gerter Proboscis, die auch Korbblütler und ande-
re Pflanzen besuchen, finden die meist kurzrüss-
ligen Fliegen allerdings nur Zugang zu flachen
Nektarien, wie sie vorzugsweise bei Doldenblüt-
lern vorhanden sind. Blütenreiche und gut struk-
turierte Saumgesellschaften fördern deshalb die
Diversität der Raupenfliegen in besonderer Wei-
se. Neben geeigneten Blüten oder Honigtau als
Nahrungsquellen für die Fliegen findet sich hier
als wichtige Voraussetzung ein breites Spektrum
potentieller Wirte. Denn die Larven der Tachini-
dae entwickeln sich ausschließlich als spezifische
Endoparasiten im Körper von Gliederfüßern (meist
Insekten). Sie sind Parasitoide, die ihr Wirtstier
am Ende ihrer eigenen Larvalentwicklung töten.
Die häufigsten Wirte sind Schmetterlingsraupen,
was den Fliegen die deutsche Bezeichnung Rau-
penfliegen eintrug. Aber auch Käfer, Wanzen,
Blattwespen, Heuschrecken, Ohrwürmer, Schna-
ken und Hundertfüßer werden von einheimischen
Tachinen parasitiert. Zur Infestation des Wirtes
verfolgen die Tachinidae unterschiedliche Strate-
gien. Am häufigsten werden die Eier oder Larven
auf den Wirt oder auf dessen Fraßpflanzen abge-
legt, selten mit einem Legebohrer direkt in den
Wirt injiziert (ZIEGLER, 2003).
Vor allem in Nordamerika werden Raupenfliegen
bereits seit Jahrzehnten zur biologischen Bekämp-
fung von eingeschleppten Schadinsekten einge-
setzt. Auch in der Forst- und Landwirtschaft Mit-
teleuropas sind die Tachinen als Parasitoide der
Raupen von Schwammspinner, Nonne, Kiefern-
eule, Kiefernspanner, Kiefernspinner, Kleinem
Frostspanner, Erdeulen und manch anderer Ar-
ten von Bedeutung. Auf Flächen mit intensiver
land- oder forstwirtschaftlicher Nutzung bleiben
ihnen allerdings wenig Wirkungsmöglichkeiten.
Dagegen nehmen sie im Beziehungsgefüge na-
türlicher und naturnaher Ökosysteme als Regula-
tiv eine wichtige Stellung ein. Die spezifischen
Parasitoide unter ihnen sind in hohem Maße von
der Siedlungsdichte ihrer Wirtsarten abhängig.
Sinkt diese unter einen kritischen Wert, können
die Parasitoide aussterben, auch wenn die Wirts-
population weiterbesteht.
Diese spezifische Lebensweise der Tachinen läßt
sie als Bioindikatoren besonders geeignet erschei-
nen. Dafür spricht auch, dass an die Erfassung
der Raupenfliegen keine besonderen methodi-
schen Anforderungen gestellt werden. Weiterhin
ist auch ihr Artenreichtum und ihre Präsenz in al-
len wesentlichen terrestrischen Lebensräumen
vorteilhaft. Die Bestimmung der Arten ist allerdings
oft schwierig und auch ihre Ökologie und Verbrei-
tung sind vielfach noch unzureichend bekannt. Ge-
genwärtig ist die Nutzung der Raupenfliegen für
die Bewertung von Ökosystemen deshalb nur
partiell möglich. Ebenso ist die Einschätzung von
Tendenzen in der Bestandsentwicklung und die
Erarbeitung von Roten Listen ein Problem, weil
die Zahl der Spezialisten extrem klein und die Da-
tenlage entsprechend lückenhaft ist.
Datengrundlagen
Für Sachsen-Anhalt sind die Voraussetzungen
relativ gut, da mit Victor VON RÖDER (1841-1910)
und Paul STEIN (1852-1921) zwei Dipterologen
bereits vor etwa 100 Jahren umfangreiche Samm-
" !
Artenzahl (absolut)
Anteil an der
Gesamtartenzahl (%)
0
1
0,4%
Gefährdungskategorie
R
1
2
-
6
7
-
2,3
2,7
3
24Rote
Liste
38
9,114,5
lungen zusammengetragen haben (vergl. STARK,
1995; STEIN, 1924). Außerdem konnten in den
vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche Unter-
suchungen durch den Autor vorgenommen wer-
den (vergl. ZIEGLER, 1984, 1993, 1994, 1996, 1999,
2001). Die hier vorgelegte Rote Liste des Landes
Sachsen-Anhalt enthält 38 Tachinenarten. Die
Zuordnung zu den Gefährdungskategorien erfolg-
te wegen der oft ungenügenden Datenlage nicht
nur aufgrund der Nachweishäufigkeit und des
Zeitabstandes zum letzten Nachweis. Als mitent-
scheidend für die Einstufung wurde die Bestands-
entwicklung der jeweiligen Art im benachbarten
Brandenburg und darüber hinaus in ganz Deutsch-
land berücksichtigt. So werden nur relativ wenige
eindeutig gefährdete Taxa herausgehoben.
Bemerkungen zu ausgewählten Arten
Raupenfliegenarten mit geringer ökologischer
Valenz sind an spezielle Lebensräume gebunden
und gehören zu den besonders gefährdeten Taxa.
In diese Gruppe sind vor allem einige Bewohner
von xerothermen Offenlandstandorten einzuord-
nen. Als typischer Vertreter kann Carcelia falena-
ria hervorgehoben werden, deren Wirt Synthomis
phegea (Lepidoptera: Ctenuchidae) ebenfalls
deutlich rückläufige Tendenzen in der Bestands-
entwicklung aufweist. Auch Senometopia confun-
dens (Wirt unbekannt) und Pexopsis aprica, ein
Parasit des seltenen Rhizotrogus aestivus (Cole-
optera: Scarabaeidae) und des nahe verwandten
und weiträumig selten gewordenen Maikäfers
(Melolontha melolontha) gehören dazu. Weiterhin
ist hier der überwiegende Teil der in die Kat. 3
eingestuften Arten zu nennen: Bithia glirina, Brul-
laea ocypteroidea, Erycia festinans, Gonia distin-
Gesamt
263
Tab. 1: Übersicht zum Gefähr-
dungsgrad der Raupenfliegen
Sachsen-Anhalts.
guenda, G. vacua, Graphogaster nigrescens,
Gymnosoma costatum, G. dolycoridis, Istocheta
hemichaeta, Phasia aurigera, P. karczewskii und
Zeuxia cinerea. Die Art Germaria angustata war
in Mitteleuropa bisher nur als typischer Bewoh-
ner der Sanddünen von Meeresküsten bekannt.
Sie konnte aber in den letzten Jahren in ähnlich
strukturierten xerothermen Lebensräumen auch
in Sachsen-Anhalt nachgewiesen werden.
Auch einige der an kühlfeuchte Waldgebiete ge-
bundenen Arten erscheinen gefährdet. So wer-
den die Arten Lypha ruficauda (Wirt Hydriomena
impluviata - Lepidoptera: Geometridae), Tlephu-
sa cincinna (Wirt unbekannt) und Siphona sipho-
noides (Wirte Cabera pusaria und Xanthorrhoe bi-
riviata - Lepidoptera: Geometridae) gegenwärtig
in Deutschland sehr selten beobachtet. Für Sach-
sen-Anhalt gibt es für die zwei erstgenannten Ar-
ten keine aktuellen Nachweise. Die Wirte dieser
Tachinidae kommen (soweit bekannt) auch gegen-
wärtig in geeigneten Habitaten hinreichend vor und
können deshalb wahrscheinlich nicht ursächlich
mit dem Rückgang dieser Raupenfliegen in Zu-
sammenhang gebracht werden.
Für Baumhaueria goniaeformis (Wirte Eriogaster
lanestris, Malacosoma neustria und Lasiocampa
trifolii - Lepidoptera: Lasiocampidae), die einzige
mit hoher Wahrscheinlichkeit in Sachsen-Anhalt
ausgestorbene Raupenfliege, ist keine enge Ha-
bitatbindung bekannt und auch die Wirte geben
keinen Hinweis auf die Gefährdungsursachen. Es
muß gegenwärtig offen bleiben, warum diese Art
ihr Areal seit etwa 80 Jahren aus ganz Mitteleur-
opa zurückgezogen hat.
Art (wiss.)Kat.
Allophorocera (=Erycilla) rufipes (BRAUER & BERGENSTAMM, 1891)
Baumhaueria goniaeformis (MEIGEN, 1824)
Bithia glirina (RONDANI, 1861)
Brullaea ocypteroidea ROBINEAU-DESVOIDY, 1863
Carcelia falenaria (RONDANI, 1859)
Dufouria occlusa (ROBINEAU-DESVOIDY, 1863)
Eriothrix argyreatus (MEIGEN, 1824)
Eriothrix prolixa (MEIGEN, 1824)
Erycia festinans (MEIGEN, 1824)
Erycia furibunda (ZETTERSTADT, 1844)
Eurithia intermedia (ZETTERSTADT, 1844)
Germaria angustata (ZETTERSTADT, 1844)
Gonia distinguenda HERTING, 1963
Gonia vacua MEIGEN, 1826
Graphogaster nigrescens HERTING, 1971
Gymnosoma costatum (PANZER, 1800)2
0
3
3
1
1
1
2
3
3
1
3
3
3
3
3
" "
Art (wiss.)Kat.
Gymnosoma dolycoridis DUPIUS, 1961
Istocheta hemichaeta (BRAUER & BERGENSTAMM, 1889)
Linnaemya olsufjevi ZIMIN, 1954
Lydella ripae BRISCHKE, 1885
Lypha ruficauda (ZETTERSTADT, 1838)
Panzeria vagans (MEIGEN, 1824)
Peleteria popelii (PORTSHINSKY, 1882)
Pexopsis aprica (MEIGEN, 1824)
Phasia aurigera (EGGER, 1860)
Phasia karczewskii (DRABER-MONKO, 1965)
Phorocera grandis (RONDANI, 1859)
Ptesiomyia alacris (MEIGEN, 1824)
Redtenbacheria insignis EGGER 1861
Senometopia confundens (RONDANI, 1859)
Siphona hungarica ANDERSEN, 1984
Siphona rossica MESNIL, 1960
Siphona setosa MESNIL, 1960
Siphona siphonoides (STROBL, 1898)
Spallanzania hebes (FALLÉN, 1820)
Tachina grossa (LINNAEUS, 1758)
Tlephusa cincinna (RONDANI, 1859)
Zeuxia cinerea MEIGEN, 18263
3
3
3
2
1
2
2
3
3
3
3
3
1
3
3
3
3
3
2
2
3
Nomenklatur überwiegend nach HERTING & DELY-DRASKOVITS (1993) und ZIEGLER (1999).
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Auflage. Band I: Wirbellose Tiere, 5. Teil: Insecta.- Spek-
trum Akademischer Verlag; Heidelberg, Berlin: 756-860.
Anschrift des Autors
Dr. Joachim Ziegler
Humboldt-Universität zu Berlin
Museum für Naturkunde
Invalidenstr. 43
D-10115 Berlin
E-Mail: Joachim.Ziegler@Museum.HU-Berlin.de
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