Rote Listen Sachsen-Anhalt
Berichte des Landesamtes
für Umweltschutz Sachsen-Anhalt
Halle, Heft 1/2020: 77–109
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Bearbeitet von Regine Stordeur &
Hans-Ulrich Kison
unter Mitarbeit von Ulf Schiefelbein,
Mark Schönbrodt und René Thiemann
3. Fassung (Stand: August 2019)
Einleitung
Bei den Flechten leben Pilzpartner (Mycobionten, meist
ein Ascomycet) und photosynthetisch aktive Partner
(Photobionten, 90 % Grünalgen, 10 % Cyanobakterien)
in einer mutualistischen Symbiose zusammen. Diese
neue Lebensform ist zu bemerkenswerten Leistungen
befähigt, die keiner der einzelnen Partner allein bewäl-
tigen könnte (Besiedlung ungewöhnlicher, mitunter
sogar lebensfeindlich anmutender Substrate, Austrock-
nungstoleranz, Kälteunempfindlichkeit, Synthese von
sekundären Flechtenstoffen usw.).
Der Begriff Lichenicole fasst alle pilzlichen Le-
bensformen zusammen, die auf Flechten leben. Diese
sind in der Regel nicht lichenisiert, einige wenige von
ihnen können jedoch fakultativ mit Photobionten zu-
sammenleben. Diese spezielle Symbiose kann je nach
Art weitgehend ohne größere Beeinträchtigung der
Wirtsflechte existieren (parasymbiontische Lebens-
weise), aber auch zu stärkeren Schäden bis zum völli-
gen Absterben der Wirtsflechte führen (parasitische
Lebensweise).
Die hier behandelten Saprophyten sind durch-
gängig nichtlichenisierte Pilze, die einerseits eine
enge Verwandtschaft zu einigen Flechten aufweisen,
andererseits in ihrer Erscheinungsform bestimmten
Flechten sehr ähnlich sehen und häufig die gleichen-
Substrate (z. B. Baumborke) besiedeln, weshalb sie
traditionell in der Lichenologie mitbehandelt werden.
Generell ist die Abgrenzung dieser drei Organis-
mengruppen nicht so einfach, da sich innerhalb einer
Gattung sowohl lichenisierte als auch nicht licheni-
sierte Arten und solche, die fakultativ lichenisiert sein
können, finden lassen. Die Grenzen sind teilweise
fließend, was in der Vergangenheit auch zu unter-
schiedlicher Bewertung solcher Arten geführt hat.
Dennoch wurde diese Trennung analog der Roten
Liste Deutschlands (Wirth et al. 2011) vorgenommen.
Die Gesamtartenzahl für Deutschland wird darin mit
2.380 Taxa angegeben, darunter 1.946 Flechten, 390
Lichenicole und 44 Saprophyten. In der letzten Roten
Liste von Sachsen-Anhalt (Scholz 2004) wurden von
insgesamt 719 für Sachsen-Anhalt nachgewiesenen
Arten 433 Taxa (darunter 9 nichtlichenisierte Pilze)
behandelt. In der Bestandssituation (Stordeur & Kison
2016), die als erste veröffentlichte Checkliste für
Sachsen-Anhalt gelten kann, wurden 911 Flechten
taxa, 55 Lichenicole und 13 Saprophyten aufgelistet.
Flechten (Lichenes),
Lichenicole und Saprophyten
Datengrundlagen
In den letzten 15 Jahren wurden verstärkt flechten-
floristische Untersuchungen durchgeführt, die zu-
sammen mit den bereits länger vorliegenden Daten
die Grundlage für die aktuelle Einschätzung der in
Sachsen-Anhalt vorhandenen Taxa bildete. Insbeson-
dere sind hier folgende Aktivitäten hervorzuheben:
− Erfassung der Flechten und Lichenicolen im Gebiet
des Nationalparks Harz (Czarnota et al. 2014, Kison
et al. 2017) und darüber hinaus im gesamten Harz-
gebiet,
− Projekte zur Erfassung der Flechten und Lichenico-
len in verschiedenen Lebensräumen des National-
parks, in ausgewählten Heidegebieten und auf
ehemaligen Truppenübungsplätzen, im Biosphä-
renreservat Karstlandschaft Südharz und auf Streu-
obstwiesen sowie an Feldgehölzen,
− Examensarbeiten an der Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg (betreut durch R. Stordeur und
teilweise H.-U. Kison) (Schönbrodt 2004, Ungethüm
2011, Thiemann 2011, Schröter 2012, Gaberle 2015) ,
− Datenerhebung zur Bestandssituation der Rentier-
flechten (Gnüchtel),
− Kartierungen im Rahmen der Frühjahrsexkursionen
der Kryptogamenarbeitsgruppe sowie Exkursionen
in kleinerem Kreis mit wechselnden Teilnehmern,
z. T. mit Unterstützung von Experten aus anderen
Bundesländern und aus dem Ausland,
− Sammlungsdaten von Flechten im Rahmen von
privaten Exkursionen.
Die o. a. Aktivitäten führten zu zahlreichen Neu- und
Wiederfunden und somit insgesamt auch zu einem
deutlichen Anstieg der Zahl bekannter Arten (Kison
2004, Huneck 2006, Søchting et al. 2007, Stordeur &
Schönbrodt 2010, Scholz 2011, Schubert & Stordeur
2011, Czarnota et al. 2014, Stordeur et al. 2015, Kison et
al. 2016, Schiefelbein et al. 2017, Stordeur et al. 2018).
Die Zusammenstellung der Bestandssituation der
Flechten in Sachsen-Anhalt (Stordeur & Kison 2016)
stellt eine erste Checkliste für Sachsen-Anhalt und
gleichzeitig die wichtigste Grundlage für die Erstel-
lung der Roten Liste dar. Diese Checkliste muss aber
bereits jetzt um zahlreiche weitere Arten ergänzt
werden. Auch eine wiederholte Erfassung der Flech-
ten in Halleschen Schutzgebieten (Stordeur 2020)
führte zu Neufunden für Sachsen-Anhalt.
Alle verfügbaren Daten werden mit WINART,
einem vom Landesamt für Umweltschutz (LAU) be-
reitgestellten Programm, erfasst und von R. Stordeur
und Mitarbeitern des LAU (v. a. K. Lange & P. Schütze)
betreut und ausgewertet. In vorliegendem Fall wur-
den außerdem mit Hilfe von GIS-Programmen von G.
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Flechten
Seidler (Martin-Luther-Universität Halle) zeitlich dif-
ferenzierte Verbreitungskarten aller Taxa erstellt und
diese in die Entscheidungsfindung mit einbezogen.
Dabei wurde keinesfalls rein schematisch vorgegan-
gen. Alle Einstufungen in eine Gefährdungskategorie
erfolgten gutachterlich unter Berücksichtigung der
Anzahl der Vorkommen bzw. der aktuellen Bestands-
situation, der lang- und kurzfristigen Bestandstrends
(soweit man das schon beurteilen konnte) und unter
Berücksichtigung der Risikofaktoren.
Obwohl für die vorliegende Rote Liste konsequent
alle Arten gestrichen wurden, die unsicher und durch
fehlende Belege nicht mehr überprüfbar waren, konn-
ten durch zahlreiche Neufunde in den letzten Jahren
insgesamt 1.060 Taxa in die Bewertung einbezogen
werden (darunter 957 Flechten, 88 Lichenicole und 15
Saprophyten). Unter den 957 Flechtentaxa befinden
sich 14 Sammelarten, 6 Unterarten (Subspecies) und
7 Varietäten. Diese wurden ebenso wie die Arten ein-
geschätzt, in den Berechnungen diesen gleichgestellt
und nachfolgend nicht extra erwähnt.
Die ungewöhnlich hohe Zahl von 856 in die Rote
Liste aufgenommenen Taxa (646 davon in eine Ge-
fährdungskategorie, 219 in eine der sonstigen Kate-
gorien) ist einerseits dadurch bedingt, dass 259 Taxa
(darunter 247 Flechten, 7 Lichenicole und 5 Sapro-
phyten) bereits als ausgestorben bzw. verschollen
geführt werden müssen. Teilweise handelt es sich
dabei um Arten, die schon sehr lange (mitunter weit
über 100 Jahre) nicht mehr nachgewiesen waren
und bereits 2004 in dieser Kategorie geführt wur-
den, teilweise aber auch um Arten, die bedingt durch
veränderte Umweltbedingungen und Landschafts-
nutzung, Zerstörung von Standorten o. ä. neu in diese
Gefährdungskategorie eingeordnet werden mussten.
Darüber hinaus wurden auf der Grundlage des ge-
wachsenen und bisher so nie verfügbaren Kenntnis-
standes alle Arten als ausgestorben bzw. verschollen
geführt, für die es mehr als 30 Jahre keinen Nachweis
mehr gibt.
Andererseits sind 136 Taxa (darunter 115 Flech-
ten, 17 Lichenicole und 4 Saprophyten) in die Kate-
gorie D (Daten unzureichend) eingeordnet worden.
Hierbei handelt es sich z. B. um ehemalige Sammel-
arten, die erst in letzter Zeit in separate Arten aufge-
spalten wurden. Da die älteren Angaben den neuen
Taxa oft nicht zuzuordnen sind, bleibt ihre Verbrei-
tung unklar und muss erst weiter ermittelt werden.
Weiterhin sind in dieser Gruppe Taxa zu finden, von
denen nur ein Einzelfund oder ganz wenige Nach-
weise vorliegen, die eine sichere Bewertung noch
nicht zulassen. Ein Grund hierfür ist, dass wir noch
viel zu wenig über die ökologischen Ansprüche dieser
Arten wissen. Möglicherweise handelt es sich um in
unserem Bundesland sehr selten vorkommende Arten
oder solche, die gerade erst wieder ins Gebiet ein-
wandern. Sehr oft sind es aber auch sehr unschein-
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bare Arten, die man nicht gezielt kartieren kann, weil
deren Auffinden überwiegend von Zufällen abhän-
gig ist. Nicht selten sind es Beifunde, die man erst
bei der Bestimmung der gesammelten Proben unter
dem Präpariermikroskop bemerkt. Hierzu zählen z. B.
Polyblastia-Arten, von denen nur die Fruchtkörper als
ein paar winzig kleine dunkle Pünktchen im Subst-
rat erkennbar sind (Abb. 1). Wenige kleine schwarze
oder andersfarbige Flecken, die auf dem Thallus oder
gar nur in den Apothecien von Flechten auftreten,
erweisen sich erst bei näherer Untersuchung als
Lichenicole (Abb. 2 und 3), während eine leichte Ver-
färbung an Baumborke oft erst bestimmbar ist, wenn
sich Fruchtkörper entwickelt haben. Sehr unauffällig
sind auch die kurzlebigen (ephemeren) Flechten, die
meist nur zu bestimmten Jahreszeiten oder unter
bestimmten mikroklimatischen Bedingungen (z. B.
erhöhte Luftfeuchtigkeit über einen längeren Zeit-
raum) und nicht selten erst nach Ausbildung ihrer
Fruchtkörper beobachtet werden können. Hierzu ge-
hören z. B. Thelocarpon- und Vezdaea-Arten (Abb. 4).
Auch die große Anzahl der sich häufig recht ähnlich
sehenden Flechten mit wenig differenziertem Thallus
und schwarzen Fruchtkörpern (Apo- oder Perithecien,
Abb. 5), die in den meisten Fällen eine mikroskopi-
sche Untersuchung erforderlich machen, lässt eine
normale Kartierung wie bei den höheren Pflanzen
nicht zu, sondern erfordert sehr viel mehr Zeit. Nicht
unerwähnt bleiben sollen in diesem Zusammenhang
auch die zahlreichen Arten, die ohne dünnschicht-
chromatographische Untersuchungen nicht sicher
bestimmbar sind.
Für einige der zur Gruppe der calicioiden Flech-
ten und Pilze zählenden Arten musste ebenfalls die
Kategorie D vergeben werden, weil bisher oft nur
wenige Funde vorliegen. Gemeinsames Merkmal
der lichenisierten Vertreter dieser Gruppe, z. B. aus
den Gattungen Calicium, Chaenotheca (Abb. 6), Cy-
phelium, Thelomma (Abb. 7), ist das Vorhandensein
eines Mazaediums, einer staubförmigen Masse, die
aus reifen Sporen und Resten von zersetzten Asci
und Paraphysen besteht und die meist auf kleinen
Stielen sitzenden kegel- oder kugelförmigen Frucht-
körper im oberen Teil bedeckt. Die nichtlichenisier-
ten Vertreter, z. B. die Gattungen Chaenothecopsis,
Microcalicium (Abb. 8), Mycocalicium, Phaeocalicium
und Stenocybe, weisen kein Mazaedium auf. Allen
gemeinsam ist jedoch ihr Vorkommen in recht ähn-
lichen ökologischen Nischen wie luftreine Gebiete,
luftfeuchte, aber meist regengeschützte Substra-
te, zu denen tiefe Borkenrisse alter Bäume eben-
so gehören wie Felsüberhänge. Ihre Persistenz in
Waldökosystemen kann immer als Indikator zur
Einschätzung der Konstanz bzw. der Naturnähe
herangezogen werden. Ein Teil von ihnen wächst
bevorzugt an stehendem oder liegendem Totholz.
Alte Weidezäune oder Holzpfähle verschwinden zu-
1 mm
Flechten
1
1 mm
2
3
Abb. 1: Fruchtkörper (Perithecien) von (Polyblastia philaea) in kalhaltigem Sandboden (Foto: R. Stordeur). Abb. 2: Lichenostigma alpinum
(kleine Schwarze Punkte) auf dem Thallus von Pertusaria amara (Foto: H.-U. Kison). Abb. 3: Polycoccum peltigerae auf dem Thallus von Pelti-
gera didactyla (Foto: A. Seelemann).
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Spezialisten unter extremen Lebensumständen Viele Flechten sind an extreme Umweltbedingungen angepasst. Orte, an denen die meisten Pflanzen und Pilze allein wegen fehlender Nährstoffe oder häufiger Austrocknung nicht existieren könnten, bieten noch Lebensräume für Flechten. Einige Arten sind so kältetolerant, dass sie selbst nackten Fels in der nivalen Höhenstufe der Gebirge besiedeln können. An vielen dieser unwirtlichen Standorte haben Flechten keine Konkurrenz. Flechtenvielfalt und Luftqualität Viele Flechtenarten reagieren empfindlich auf Veränderungen der Luftqualität. Im 20. Jahrhundert gingen die Bestände einiger Flechtenarten aufgrund des hohen Schwefeldioxidgehalts der Luft zurück. Durch die Minderung von Emissionen breitete sich ein Teil der Arten später wieder aus, andere haben sich von den Bestandseinbußen noch nicht erholt. Aktuell setzen besonders die hohen Stickstoffeinträge aus Industrie und Landwirtschaft den Flechten zu. Wie geht es den Flechten? Für die Rote Liste der Flechten Deutschlands aus dem Jahr 2011 wurden 1.946 etablierte Flechtenarten, -unterarten und -varietäten bewertet. Es wurden 714, also rund 37 % aller aus Deutschland bekannten Flechten-Taxa (Arten, Unterarten, Varietäten) als bestandsgefährdet eingestuft, weitere 152 sind bereits ausgestorben oder gelten als verschollen. Wie bedenklich die Situation der Flechten insgesamt ist, wird anhand des Anteils ungefährdeter Taxa deutlich: Für nur etwa ein Viertel der in Deutschland vorkommenden Taxa wird eine Gefährdung sicher ausgeschlossen. Eine Aktualisierung der Roten Liste ist derzeit in Arbeit, eine überarbeitete Referenzliste („Checkliste“) mit mehr als 2.000 Taxa wurde bereits in der Fachzeitschrift Herzogia veröffentlicht. Viele Pilzarten wachsen nur auf ganz bestimmten Substraten oder Wirten. Einige von ihnen haben sich auf Flechten spezialisiert und werden daher als lichenicol oder flechtenbewohnend bezeichnet. Da Funddaten dieser Arten traditionell eher von Flechten- als von Pilzexperten erhoben werden, wird die Gefährdung der flechtenbewohnenden Pilze gemeinsam in einer Roten Liste mit den Flechten bewertet. Für etwa die Hälfte der Arten reichen aktuell die Daten und Kenntnisse noch nicht aus, um die Gefährdung zu beurteilen. 40 Arten werden in der aktuellen Roten Liste als bestandsgefährdet, weitere 16 als ausgestorben oder verschollen angesehen. 80 Arten sind in Deutschland extrem selten, bei 75 Arten ist von ungefährdeten Beständen auszugehen. Flechtenähnliche Pilze werden traditionell von der Lichenologie mitbearbeitet und sind deshalb in dieser Roten Liste enthalten. Von ihnen sind 7 Arten ausgestorben oder bestandsgefährdet, für 66 % reicht die Datenlage nicht für eine Einstufung aus. Aktuelle Rote Liste und Datenportal Wirth, V.; Hauck, M.; Brackel, W. von; Cezanne, R.; Bruyn, U. de; Dürhammer, O.; Eichler, M.; Gnüchtel, A.; John, V.; Litterski, B.; Otte, V.; Schiefelbein, U.; Scholz, P.; Schultz, M.; Stordeur, R.; Feuerer, T. & Heinrich, D. (2011): Rote Liste und Artenverzeichnis der Flechten und flechtenbewohnenden Pilze Deutschlands. – In: Ludwig, G. & Matzke-Hajek, G. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 6: Pilze (Teil 2) – Flechten und Myxomyzeten. – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (6): 7–122. Die Rote-Liste-Daten sind auch als Download verfügbar. Im Datenportal Flechten Deutschlands stehen darüber hinaus Beobachtungsdaten, Kartier-/Artenlisten und Verbreitungskarten zur Verfügung. Eine überarbeitete Checkliste (Stand März 2023) ist bei der Bryologisch-lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa e. V. als Download verfügbar. Artportraits Isländisches Moos ( Cetraria islandica ) Raue Braunschüsselflechte ( Melanohalea exasperata )