Frank, D. & Schnitter, P. (Hrsg.): Pflanzen und Tiere in Sachsen-Anhalt
Flechten (Lichenes) und flechtenbewohnende (lichenicole) Pilze
Bestandsentwicklung. Stand: März 2016
Regine Stordeur & Hans-Ulrich Kison
EinführungBearbeitungsstand
Flechten sind symbiontische Organismen, die aus min-
destens einem Pilzpartner (Mycobiont) und mindestens
einem photosynthetisch aktiven Partner (Photobiont,
der bis zu 90 % Grünalgen und bis zu 10 % Cyanobakte-
rien enthält) bestehen. Diese Symbiose ermöglicht bei-
den Partnern ungewöhnliche, oft auch lebensfeindlich
anmutende Substrate zu besiedeln. Andererseits ist die-
se fein eingestellte Partnerschaft auch sehr empfindlich
gegenüber jeder Veränderung ihrer unmittelbaren Le-
bensumstände, weshalb sich nicht nur Luftverschmut-
zung (u. a. SO2 , Stickstoffeintrag) sehr negativ auf viele
Flechtenarten auswirkt, sondern auch Veränderungen
des Groß- und besonders des Mikroklimas. Somit kann
das Freistellen eines Standortes durch das Fällen eines
Baumes die allmähliche Verbuschung und damit ein-
hergehende Beschattung, die Sanierung einer Mauer
o. ä. bereits die Vernichtung eines Vorkommens und
aufgrund der Seltenheit vieler Arten unter Umständen
auch deren Auslöschung im gesamten Bundesland be-
deuten.
Wirksame Schutzmaßnahmen sind nur möglich,
wenn man die Bestandssituation aller Arten im Gebiet
kennt. Der Bearbeitungsstand in Sachsen-Anhalt ist je
nach Region sehr unterschiedlich und deshalb insge-
samt als noch unzureichend einzuschätzen. Es bedarf
noch einiger Jahre und Anstrengungen, um ihn als
befriedigend ansehen zu können. Dennoch soll hier
versucht werden, eine erste Bilanz zu ziehen und die
Häufigkeit der Arten und ihre Bestandsentwicklung
zu bewerten. Damit wird gleichzeitig eine aktuelle Ge-
samtartenliste aller bisher in Sachsen-Anhalt nachge-
wiesenen Taxa vorgelegt.
In Deutschland sind aktuell rund 2.500 Flechtentaxa,
lichenicole (flechtenbewohnende [hierbei kann es sich
um parasitische oder parasymbiontische Lebensweisen
handeln]) Pilze und einige saprophytische (auf totem
organischem Material lebende) Pilze, die traditionell in
der Lichenologie mit behandelt werden, bekannt. Die
Übergänge zwischen lichenicoler und saprophytischer
Lebensweise sind mitunter fließend, da einige Arten im
Jugendstadium z. B. auf anderen Flechten parasitieren,
nach dem Absterben der Wirtsflechten auf diesen sa-
prophytisch leben und schließlich zur rein saprophyti-
schen Lebensweise (auf Rohhumus und abgestorbenen
Pflanzenteilen) übergehen.Vereinzelte Angaben zur Verbreitung von Arten in
unserem Gebiet finden sich in zahlreichen älteren Flo-
renwerken. Eines der ersten dürfte Scholler (1775)
sein, im 19. Jahrhundert folgten dann Werke von Wall-
roth (1831), Körber (1865), Kummer (1883) und die
unter dem Namen der jeweiligen Bearbeiter genannten
Teile von Rabenhorsts Kryptogamenflora, die über
einen längeren Zeitraum erschienen. Parallel dazu be-
gann aber auch die intensivere Bearbeitung einzelner
Gebiete von Sachsen-Anhalt. So verfasste Schwabe
(1839) eine Flora von Anhalt, Sprengel (1832) und
Garcke (1856) legten Ergebnisse von Halle und Um-
gebung vor. Eine besondere Anziehungskraft für Li-
chenologen übten stets der Harz und das Harzvorland
aus, sodass zahlreiche Beiträge aus dieser Region exis-
tieren, in denen teilweise auch neue Arten beschrieben
wurden. Eine frühe Liste (noch ohne konkrete Fund-
ortangaben) wurde von Hampe (1837) erstellt, weitere
Beiträge stammen von Wedde (1909) und Zschacke
(1909, 1922), um nur einige Beispiele zu nennen. Auch
in seinen Arbeiten über Moose erwähnt Zschacke
immer wieder Flechten (Zschacke 1905, 1911). Wei-
tere nennenswerte Arbeiten aus dem Harz stammen
von Lampe & Klement (1958) und Schubert & Kle-
ment (1961). Reimers (1940, 1950) befasste sich mit
den Bunten Erdflechtengesellschaften, die vor allem auf
Kalk und Zechstein-Gips im südlichen Harzvorland so-
wie im Kyffhäuser, der überwiegend zu Thüringen ge-
Thelotrema lepadinum, eine Krustenflechte an alten Baum-
stämmen, bevorzugt kühle, luftfeuchte und windgeschützte
Standorte. Sie wurde 2013 nach mehr als 170 Jahren wieder
nachgewiesen. Ilsetal, 2014, Foto: H.-U. Kison.
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hört, vorkommen. Aber auch andere Regionen wurden
untersucht, so Schönebeck an der Elbe (Kaiser 1907)
oder die Region Rothenburg-Könnern im unteren
Saaletal (Altehage 1937).
Mit Ausnahme von Marstaller, der im Süden von
Sachsen-Anhalt zahlreiche Gebiete bearbeitete und in
seinen Vegetationsaufnahmen auch stets einige Flech-
ten mit erwähnte (z. B. Marstaller 1971, 1987), wur-
den in der Folgezeit die Kryptogamen meist im Rahmen
von Qualifizierungsarbeiten untersucht. Zu erwähnen
sind hier die Diplomarbeiten von Nörr (1968), die die
Moosvegetation des NSG Bodetal und des Rübeländer
Kalkgebietes untersuchte und auch zahlreiche Flechten
mit auflistet, und Wolf (1991), der flechtenfloristische
Untersuchungen im Selketal durchführte. Die bisher
umfangreichste Arbeit im Harz ist die Dissertation
von Scholz (1992). Alle weiteren Arbeiten erfolgten
nach dem Jahr 2000, so z. B. die Diplomarbeiten von
Schulze (2003) in der Region Harslebener Berge und
Steinholz und Ungethüm (2011) im Brockengebiet, die
beide von H.-U. Kison vom Nationalpark „Harz“ mit-
betreut wurden. Seit Bestehen des Nationalparks bekam
die Erfassung der Flechten in dieser Region wieder ei-
nen deutlichen Aufschwung (Kison und Mitarbeiter).
Gut untersucht ist mittlerweile auch das Stadtge-
biet von Halle durch Müller (1992) und Wiederho-
lungskartierungen von Schönbrodt (2004), Thie-
mann (2011) und Schröter (2012). In den letzten
10–15 Jahren wurde die Erfassung der Kryptogamen
auch durch das Landesamt für Umweltschutz gefördert,
sodass in zahlreichen Projekten FFH- und weitere in-
teressante Gebiete untersucht werden konnten. Dazu
zählt beispielsweise die erste flächendeckende Epiphy-
tenkartierung von Scholz (1993). Diese ist jedoch
durch die drastischen Veränderungen der Luftsituation
nach der Wende (Stilllegung von Fabriken, Einbau von
Filtern, Umstellung von Kohle- auf Gas- oder Ölhei-
zungen usw.) bereits überholt, da viele Arten wieder
einwanderten, andere zurückgehen. Durch die vielfäl-
tigen Aktivitäten in den letzten Jahren konnten zahlrei-
che Arten nachgewiesen werden, die entweder neu für
Sachsen-Anhalt oder aber Wiederfunde nach längerer
„Abwesenheit“ (meist länger als 50, teilweise weit über
100 Jahre) sind.
Bestandssituation
Eine erste, allerdings unveröffentlichte Checkliste
der Flechten, Flechtenparasiten und verwandter Pilze
Sachsen-Anhalts erarbeitete Scholz im Auftrag des
Landesamtes für Umweltschutz im Jahre 2000 (Scholz
2000b). Einbezogen wurden nichtpublizierte Angaben
und Manuskripte, Literatur, Nachlässe, Herbarbele-
ge und Exsiccatenwerke. Insgesamt wurden 789 Taxa
aufgelistet, davon sind 676 Flechtenarten und 18 in-
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fraspezifische Taxa, 24 lichenicole Pilze und zehn sa-
prophytische Pilze aufgeführt. Außerdem wurden 61
Taxa genannt, die entweder taxonomisch als unsicher
gelten oder deren Vorkommen im Land fraglich ist.
Jedoch enthält diese Liste weder Aussagen zur Häufig-
keit der Arten insgesamt noch zu ihrem Vorkommen
in bestimmten Regionen oder Landschaftseinheiten wie
Tief-, Hügel- oder Bergland. Weiterhin ist dieser Liste
nicht zu entnehmen, ob es sich um sehr alte Angaben
und damit um oft schon ausgestorbene oder verschol-
lene Arten handelt oder um aktuelle Vorkommen, da
unter Literatur völlig undifferenziert auch die Sekun-
därliteratur erfasst wurde, in der oft nur die Funde aus
älteren Werken zitiert werden.
In der vorliegenden Arbeit werden Angaben zur Häu-
figkeit der Arten in den einzelnen Landschaftseinheiten
gemacht, eine erste (sicher noch nicht immer perfekte)
Einschätzung der Bestandsentwicklung gegeben sowie
der jeweils jüngste bekannte Fund genannt.
Für Sachsen-Anhalt sind 979 Taxa aufgeführt, zu-
sätzlich zu den untergeordneten Taxa wurden fünf
sogenannte Sammelarten eingeführt und mit „s. l.“ ge-
kennzeichnet, da die Unterarten oder Varietäten in der
Vergangenheit meist nicht unterschieden wurden und
die älteren Angaben somit nicht exakt zugeordnet wer-
den konnten. Für zehn weitere Arten, die ebenfalls mit
„s. l.“ gekennzeichnet wurden, werden keine Unterarten
oder Varietäten aufgelistet, da solche bisher im Gebiet
nicht nachgewiesen, die ehemaligen Unterarten oder
Varietäten mittlerweile in den Artrang erhoben oder in
die Sammelart eingeschlossen wurden.
911 Taxa sind lichenisiert, also Flechten, 55 zählen zu
den lichenicolen und 13 zu den saprophytischen Pilzen.
Von den insgesamt 979 Taxa sind 240 bereits ausgestor-
ben oder verschollen, d. h. sie wurden mehr als 50 Jahre
nicht mehr in Sachsen-Anhalt nachgewiesen.
Für 74 Taxa gibt es keine aktuellen Nachweise, d. h.
keine Funde ab 2001. Für nicht wenige Arten gibt es
bisher nur einen einzigen Nachweis für das gesam-
te Bundesland. Hier genaue Zahlen anzugeben, lohnt
zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Neben den ohnehin sehr
seltenen Arten handelt es sich dabei oft um Taxa, die
entweder erst jetzt von vorhandenen Arten abgetrennt
wurden und somit schon länger im Gebiet siedeln (hier
bedarf es der Überprüfung älterer Belege und zukünftig
der exakten Zuordnung bei Geländearbeiten), oder die
wieder einwandern und deshalb in Kürze mit weiteren
Funden zu rechnen ist.
Andererseits sind 43 Taxa Wiederfunde für Sachsen-
Anhalt nach längerer Zeit (mindestens 50 Jahre oder
länger), davon ist eine Art (Rimularia gyrizans) sogar
ein Wiederfund für Deutschland. 105 Taxa wurden
als Neufunde bzw. Neunachweise für Sachsen-Anhalt
registriert, davon sind drei Arten (Bacidia viridescens,
Llimoniella groenlandiae und Micarea nigella) neu für
Flechten (Lichenes) und flechtenbewohnende (lichenicole) Pilze
Deutschland. Nicht enthalten in dieser Statistik sind
die 30 Neu- und Wiederfunde, die erst kürzlich (Czar-
nota et al. 2014) veröffentlicht wurden.
Für die gegenüber Scholz (2000b) deutlich erhöhte
Anzahl an nachgewiesenen Taxa sind im Wesentlichen
vier Gründe zu nennen:
1. Verbesserter Kenntnisstand aufgrund zahlreicher taxo-
nomischer und molekulargenetischer Untersuchun-
gen in den letzten Jahren und damit Vorliegen besse-
rer Bestimmungsliteratur.
2. Die deutlich verbesserte Luftsituation (v. a. Reduzie-
rung der SO2-Emmissionen) ermöglichte die Wie-
dereinwanderung vieler Arten, auch solcher, die in
der Roten Liste von Sachsen-Anhalt (Scholz 2004)
bereits als ausgestorben oder verschollen geführt
wurden. Möglicherweise zeigen sich hier auch schon
erste Auswirkungen des Klimawandels.
3. Aufgrund zahlreicher Projekte, gemeinsamer Ex-
kursionen mit Spezialisten und im Rahmen der im
Frühjahr stattfindenden Kartierwochenenden sowie
durch Vergabe von Qualifizierungsarbeiten hat sich
der Bearbeitungsstand in den letzten Jahren deutlich
verbessert.
4. Die zwischenzeitlich häufig etwas vernachlässigte
Gruppe der lichenicolen Pilze findet, nicht zuletzt
durch das Vorliegen besserer Bestimmungsliteratur,
wieder stärkere Beachtung. Dennoch gibt es für die-
se Gruppe noch große Kenntnisdefizite, was sich vor
allem darin zeigt, dass viele in Deutschland häufige
und weit verbreitete Arten in Sachsen-Anhalt noch
nicht nachgewiesen wurden.
Bemerkenswert ist, dass 18 Arten, die in der Roten
Liste von Sachsen-Anhalt (Scholz 2004) bereits als aus-
gestorben oder verschollen eingestuft waren, wieder auf-
gefunden werden konnten (z. B. Acrocordia gemmata,
Anaptychia ciliaris, Collema dichotomum, Evernia diva-
ricata, Icmadophila ericetorum, Lecanactis abietina,
Physcia clementei und Thelotrema lepadinum).
Analog zu den Moosen ist auch das Vorkommen von
Flechten stark abhängig von geomorphologischen und
mikroklimatischen Verhältnissen, wobei die Diversität
deutlich ansteigt, wenn stark differenzierte Standorte
mit einer Vielzahl von möglichen Substraten vorhan-
den sind. Die bodenbewohnenden Flechten sind meist
darauf angewiesen, dass wenigstens kleine Teilbereiche
frei bleiben oder nur lückig mit höherer Vegetation
bewachsen sind. Differenzierend wirken sich hier un-
terschiedliche Feuchtigkeitsverhältnisse, Expositionen,
Verdichtungen, pH-Werte und Mineralstoffgehalte des
Bodens aus. Hervorzuheben sind Kalktrockenrasen
und Gipsstandorte, auf denen Vertreter der bundesweit
gefährdeten Bunten Erdflechtengesellschaft (wie Psora
spp., Gyalolechia spp., Diploschistes diacapsis u. a.) sie-
deln, aber auch saure und nährstoffarme Heideböden,
die zahlreichen Cladonia-, Peltigera- und weiteren Ar-
ten Lebensraum bieten.
Starke Veränderungen gab es in den letzten 20–25
Jahren in der Epiphytenflora. Während die Ende des
vergangenen Jahrhunderts allgegenwärtige und teilwei-
se nur noch als einzige Art vorkommende Lecanora co-
nizaeoides deutliche Rückgangstendenzen zeigt, da sie
hohe SO2-Gehalte nicht nur toleriert, sondern auf ein
gewisses Maß sogar angewiesen ist, wandern seit Be-
ginn der drastischen Senkung der SO2-Gehalte in der
Luft mit nur geringer zeitlicher Verzögerung zahlrei-
che, auch sensitivere Arten wieder ein. Überlagert wird
dieser Effekt durch eine starke Zunahme der stickstoff-
liebenden Arten (wie Physcia-, Polycauliona- und Xan-
thoria-Arten), da sowohl der Eintrag von Stickstoffver-
bindungen über die Luft als auch aus lokalen Quellen
wie Landwirtschaft und Autoverkehr stark zugenom-
men hat. Auch bei den Totholzbewohnern ist eine Zu-
nahme bzw. Wiedereinwanderung zu beobachten.
Epilithische Arten, von denen viele auch gern auf
Kunststein oder Beton siedeln, waren in der Vergangen-
heit nicht so stark von den hohen SO2-Gehalten der Luft
betroffen, da kalkhaltiges Substrat eine gute Pufferwir-
kung ausübt. Silikatgesteine sind ohnehin überwiegend
sauer und verändern wegen der zumeist harten Struk-
tur ihren pH-Wert infolge sauren Regens in der Regel
nicht oder nur geringfügig.
Sonderstandorte stellen die Kupferschieferhalden dar,
die durch unterschiedliche Schwermetallgehalte und in-
selartigen Einfluss von Zechsteinkalk mit einer gut ent-
wickelten chalkophilen Flechtenflora ausgestattet sind
(Acarospora spp., Lecidea inops, Rhizocarpon spp. u. a.).
Herausragende Gebiete für die Flechtenflora sind der
Harz und das Harzvorland. Vor allem im Oberharz gibt es
nicht wenige Arten, die hier für Sachsen-Anhalt entweder
ihren Verbreitungsschwerpunkt aufweisen (z. B. Cetraria
islandica, Graphis scripta) oder sogar ausschließlich auf
den Blockhalden oder in den Kammlagen der Gipfel vor-
kommen (z. B. Aspilidea myrinii, Brodoa intestiniformis,
Calicium trabinellum, Cetraria sepincola, Cetrariella com-
mixta, Sphaerophorus fragilis, Thamnolia subuliformis).
Hier finden sich nach wie vor auch sogenannte Eiszeit-
relikte, die ebenfalls ausschließlich im Oberharz (Arcto-
parmelia centrifuga) oder aber an der Teufelsmauer (Di-
melaena oreina) vorkommen. Neben der ausgesprochen
reichen geomorphologischen Ausstattung in unterschied-
lichen Höhenlagen (Blockhalden, Moore, verschiede-
ne Gehölze usw.) und ausreichenden Niederschlägen,
kommt vor allem zum Tragen, dass es Gebiete gibt, die
schon sehr lange mit Wäldern bestanden sind, die auf
Grund der Steillagen keiner Nutzung unterworfen waren,
also durchaus als historisch alte Wälder bezeichnet wer-
den können. Und schließlich kann der Harz als eines der
gut untersuchten Gebiete bezeichnet werden, auch wenn
durchaus noch Überraschungen zu erwarten sind.
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Spezialisten unter extremen Lebensumständen Viele Flechten sind an extreme Umweltbedingungen angepasst. Orte, an denen die meisten Pflanzen und Pilze allein wegen fehlender Nährstoffe oder häufiger Austrocknung nicht existieren könnten, bieten noch Lebensräume für Flechten. Einige Arten sind so kältetolerant, dass sie selbst nackten Fels in der nivalen Höhenstufe der Gebirge besiedeln können. An vielen dieser unwirtlichen Standorte haben Flechten keine Konkurrenz. Flechtenvielfalt und Luftqualität Viele Flechtenarten reagieren empfindlich auf Veränderungen der Luftqualität. Im 20. Jahrhundert gingen die Bestände einiger Flechtenarten aufgrund des hohen Schwefeldioxidgehalts der Luft zurück. Durch die Minderung von Emissionen breitete sich ein Teil der Arten später wieder aus, andere haben sich von den Bestandseinbußen noch nicht erholt. Aktuell setzen besonders die hohen Stickstoffeinträge aus Industrie und Landwirtschaft den Flechten zu. Wie geht es den Flechten? Für die Rote Liste der Flechten Deutschlands aus dem Jahr 2011 wurden 1.946 etablierte Flechtenarten, -unterarten und -varietäten bewertet. Es wurden 714, also rund 37 % aller aus Deutschland bekannten Flechten-Taxa (Arten, Unterarten, Varietäten) als bestandsgefährdet eingestuft, weitere 152 sind bereits ausgestorben oder gelten als verschollen. Wie bedenklich die Situation der Flechten insgesamt ist, wird anhand des Anteils ungefährdeter Taxa deutlich: Für nur etwa ein Viertel der in Deutschland vorkommenden Taxa wird eine Gefährdung sicher ausgeschlossen. Eine Aktualisierung der Roten Liste ist derzeit in Arbeit, eine überarbeitete Referenzliste („Checkliste“) mit mehr als 2.000 Taxa wurde bereits in der Fachzeitschrift Herzogia veröffentlicht. Viele Pilzarten wachsen nur auf ganz bestimmten Substraten oder Wirten. Einige von ihnen haben sich auf Flechten spezialisiert und werden daher als lichenicol oder flechtenbewohnend bezeichnet. Da Funddaten dieser Arten traditionell eher von Flechten- als von Pilzexperten erhoben werden, wird die Gefährdung der flechtenbewohnenden Pilze gemeinsam in einer Roten Liste mit den Flechten bewertet. Für etwa die Hälfte der Arten reichen aktuell die Daten und Kenntnisse noch nicht aus, um die Gefährdung zu beurteilen. 40 Arten werden in der aktuellen Roten Liste als bestandsgefährdet, weitere 16 als ausgestorben oder verschollen angesehen. 80 Arten sind in Deutschland extrem selten, bei 75 Arten ist von ungefährdeten Beständen auszugehen. Flechtenähnliche Pilze werden traditionell von der Lichenologie mitbearbeitet und sind deshalb in dieser Roten Liste enthalten. Von ihnen sind 7 Arten ausgestorben oder bestandsgefährdet, für 66 % reicht die Datenlage nicht für eine Einstufung aus. Aktuelle Rote Liste und Datenportal Wirth, V.; Hauck, M.; Brackel, W. von; Cezanne, R.; Bruyn, U. de; Dürhammer, O.; Eichler, M.; Gnüchtel, A.; John, V.; Litterski, B.; Otte, V.; Schiefelbein, U.; Scholz, P.; Schultz, M.; Stordeur, R.; Feuerer, T. & Heinrich, D. (2011): Rote Liste und Artenverzeichnis der Flechten und flechtenbewohnenden Pilze Deutschlands. – In: Ludwig, G. & Matzke-Hajek, G. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 6: Pilze (Teil 2) – Flechten und Myxomyzeten. – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (6): 7–122. Die Rote-Liste-Daten sind auch als Download verfügbar. Im Datenportal Flechten Deutschlands stehen darüber hinaus Beobachtungsdaten, Kartier-/Artenlisten und Verbreitungskarten zur Verfügung. Eine überarbeitete Checkliste (Stand März 2023) ist bei der Bryologisch-lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa e. V. als Download verfügbar. Artportraits Isländisches Moos ( Cetraria islandica ) Raue Braunschüsselflechte ( Melanohalea exasperata )