Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt 39 (2004) Rote Liste der Ohrwürmer (Derma- ptera) des Landes Sachsen-Anhalt Bearbeitet von Michael WALLASCHEK unter Mitarbeit von Hans-Markus OELERICH, Klaus RICH- TER und Martin SCHULZE (2. Fassung, Stand: Februar 2004) Einführung Die weltweit etwa 1.300 rezenten Ohrwurmarten (GÜNTHER 2000) sind ausgesprochene Dämme- rungs- und Nachttiere, die zugleich eine hohe Luftfeuchtigkeit verlangen. Sie bevorzugen Schlupfwinkel, in denen sie mit möglichst vielen Körperseiten oder -stellen Kontakt mit dem um- gebenden Substrat haben. Angegriffen, wehren sie sich durch Kneifen mit den für dieses Taxon charakteristischen Zangen und durch Absonde- rung eines die Haut ätzenden Sekretes. Nur acht Ohrwurmarten sind in Deutschland indi- gen (MATZKE 2000, WALLASCHEK 1998). Angesichts dieser geringen Artenzahl sowie der auf Ekel und Angst beruhenden Einstellung vieler Menschen diesen Tieren gegenüber kann das mangelnde Interesse an den Dermapteren nicht verwundern. Allerdings hat sich herausgestellt, dass heimische Ohrwurmarten in bestimmten Lebensräumen zu den dominanten Tierarten oder -gruppen hinsicht- lich Siedlungsdichte und Biomasse gehören kön- nen (ELLENBERG et al. 1986). Von einzelnen Derma- pterenarten ist bekannt, dass sie sehr spezielle ökologische Ansprüche besitzen (HARZ 1957). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich die heimische Ohrwurmfauna zudem in ihrer Zoogeographie und Ökologie erstaunlich vielfältig (WALLASCHEK 1998). Die zoo- oder pantophage Ernährungsweise hat Untersuchungen zum Einsatz von Dermapteren- arten, darunter auch heimischen, für die biologi- sche Schädlingsbekämpfung angeregt (CAUSSANEL & ALBOUY 1991). In der Kleingartenpraxis wird der bekannte Gemeine Ohrwurm, Forficula auricula- ria LINNAEUS, 1758, mancherorts bereits in diesem Sinne gefördert. Gelegentlich mag er aber auch als Pflanzen- oder Vorratsschädling, Lästling und in seltenen Fällen durch Verschleppen von Krank- heitserregern der Kulturpflanzen und des Men- schen in Erscheinung treten (BEIER 1959). Nicht unerwähnt soll bleiben, dass den heimischen Dermapterenarten, -faunen und -taxozönosen Zeigerfunktion für die Landschaftsstruktur, den Grad des anthropogenen Einflusses und einzel- ne ökologische Faktoren zukommen kann. Somit lassen sie sich durchaus im Rahmen der Bioindi- kation in der Landschaftsplanung einsetzen (WAL- LASCHEK 1998). Datengrundlagen Zur Dermapterenfauna Sachsen-Anhalts zählen nach bisheriger Kenntnis fünf Arten (WALLASCHEK et al. 2002). Diese Arbeit enthält die aktuelle Checkliste sowie die Liste der faunistischen Pri- märliteratur und wichtiger Beiträge der Sekundär- literatur über die Ohrwürmer in Sachsen-Anhalt. Wie in diesem Beitrag richtet sich im Folgenden die Systematik und Nomenklatur der Dermaptera nach HARZ & KALTENBACH (1976). Hinsichtlich der deutschen Namen folgen wir HARZ (1957). Für die Synonyma wird auf ZACHER (1917), HARZ (1957) und HARZ & KALTENBACH (1976) verwiesen. Die letz- ten beiden Bücher sowie GÖTZ (1965) sind wichti- ge Bestimmungswerke. Bemerkungen zu ausgewählten Arten; Gefährdungsursachen und erforderliche Schutzmaßnahmen Die meisten Ohrwurmarten Sachsen-Anhalts, nämlich Labidura riparia (PALLAS, 1773), Labia minor (LINNAEUS, 1758) und Forficula auricularia LINNAEUS, 1758, sind kosmopolitisch verbreitet. Chelidurella guentheri (GALVAGNI, 1993) und Apte- rygida media (HAGENBACH, 1822) sind hingegen auf Europa beschränkt (HARZ 1960, HARZ & KALTEN- BACH 1976). Da sich der faunistische Kenntnisstand über die heimischen Dermapterenarten deutlich verbessert hat (WALLASCHEK et al. 2002), kann ein- geschätzt werden, dass die letzten vier Arten in Sachsen-Anhalt verbreitet bis sehr weit verbreitet vorkommen und nicht bestandsgefährdet sind. Obschon der Sand-Ohrwurm, Labidura riparia, kosmopolitisch verbreitet ist, reicht er in Europa nördlich der Alpen lediglich bis zur Nord- und Ost- see und kommt in Deutschland nur zerstreut vor (HARZ & KALTENBACH 1976, SCHIEMENZ 1978). In Mit- teldeutschland häuften sich aber in letzter Zeit durch die Intensivierung der Beobachtungstätig- keit Funde aus Braunkohletagebauen, Kies- und Sandgruben sowie Truppenübungsplätzen (vgl. MATZKE & KLAUS 1996, WALLASCHEK 1999). In Sach- sen-Anhalt wird die Art ebenfalls schon seit lan- gem hauptsächlich in solchen Sekundärlebens- räumen gefunden (WALLASCHEK 2000), doch liegen z.B. auch vom Elbufer Beobachtungen vor (WAL- LASCHEK et al. 2002). Labidura riparia lebt im allgemeinen in fast vege- tationslosen, gut durchwärmten, oberflächlich schnell abtrocknenden Sandflächen. Häufig, aber bei weitem nicht immer, weisen die Flächen ei- nen hohen Grundwasserspiegel (oft Gewässer- ufer) oder eine höhere Bodenfeuchtigkeit über stauenden Schichten auf. In solchen Plätzen hält sich der Sand-Ohrwurm unter Steinen, Holzstü- cken, Blech- und Plastteilen etc. auf, wo sich eine höhere Feuchtigkeit als in der Umgebung einstellt Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) 0 - - Gefährdungskategorie R 1 2 - - 1 - - 20,0 3 -Rote Liste 1 -20,0 und auch bestehen bleibt (WALLASCHEK 1999). WEIDNER (1941) nimmt als pleistozäne Refugial- räume des Sand-Ohrwurmes Südwest- und Os- teuropa an. Die postglaziale Rückwanderung in den nord- und mitteldeutschen Raum sei entlang der Urstromtäler, in die sich auch das Elbtal ein- ordnet, erfolgt. Heute spielt wohl für die Ausbrei- tung der Art, insbesondere bei der Besiedlung von Sekundärlebensräumen, Anthropochorie eine gro- ße Rolle (WALLASCHEK 1999). Durch den Mangel an natürlicher Flussdynamik werden heute nur im Ausnahmefall neue primäre Trockenbiotope in den Flusstälern des Landes ge- schaffen, die den Ansprüchen von Labidura ripa- ria genügen. Auf solche Lebensräume wird beim Flussausbau bisher wohl kaum Rücksicht genom- men. Die Sekundärlebensräume des Sand-Ohrwurmes verlieren durch Vermüllung, Rekultivierung (Auf- forstung, Ansaat von Grasmischungen), Flutung, Aufgabe oder Reduzierung der militärischen Nut- zung und natürliche Sukzession der Pflanzenbe- stände schnell an Wert für die Art. So gingen im letzten Jahrzehnt durch mangelnde Kenntnis oder Rücksichtnahme sowie das Fehlen geeigneter Gesamt 5 Tab. 1: Übersicht zum Gefähr- dungsgrad der Ohrwürmer Sachsen-Anhalts. Schutz- und Pflegemaßnahmen zunehmend Le- bensräume verloren. Zudem schafft der Braunkoh- lenbergbau in Sachsen-Anhalt bei weitem nicht mehr so viele Sekundärlebensräume wie im letz- ten Jahrhundert. Deshalb ist zu befürchten, dass das Gros der verbliebenen Sand-Ohrwurm-Be- stände im nächsten Jahrzehnt verschwindet. Daher sollte die natürliche Flussdynamik gefördert und die Erhaltung der Sandufer und von Sandbän- ken gewährleistet werden. Bepflanzung solcher Flächen ist zu unterlassen. Auf den Flussausbau muss soweit wie möglich verzichtet werden. Die Sekundärlebensräume sollten möglichst vor Vermüllung, Aufforstung und Ansaat von Grasmi- schungen geschützt werden. Stehen ausreichend Flächen zur Verfügung, wie z.B. auf Truppenü- bungsplätzen, in großen teilweise aufgelassenen Sandgruben oder in Naturschutzgebieten, kann durch umlaufendes abschnittsweises Abschieben des Oberbodens Erhaltungspflege betrieben wer- den. Auch kleinere Sekundärlebensräume sollten naturschutzrechtlich gesichert und durch Pflege oder besser Nutzung (z.B. Austrag kleiner Men- gen von Sand für gemeindliche Zwecke wie We- gebau) erhalten werden. Art (wiss.)Art (deutsch)Kat.Bem. Labidura riparia (PALLAS, 1773)Sand-Ohrwurm2V, A Nomenklatur nach HARZ & KALTENBACH (1976), deutsche Namen nach HARZ (1957). Abkürzungen und Erläuterungen, letzter Nachweis/ Quelle (Spalte Bem.)V- LiteraturNordwest-Sachsens und angrenzender Gebiete (Insecta, Dermaptera, Labiduridae).- Mauritiana (Altenburg), 16(1): 57-70. SCHIEMENZ, H. (1978): Dermaptera - Ohrwürmer.- In: STRESE- MANN, E. (Hrsg.)(1978): Exkursionsfauna für die Gebiete der DDR und der BRD. Bd. 2/1 Wirbellose, Insekten - Ers- ter Teil.- Volk und Wissen (Berlin): 91-92, 95-96. WALLASCHEK, M. (1998): Zur Ohrwurmfauna (Dermaptera) zweier Naturschutzgebiete im Naturraum Unteres Unstrut-Berg- und Hügelland.- Abh. Ber. Mus. Heineanum, 4: 71-86. WALLASCHEK, M. 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Rote Liste der Doppelfüßer (Diplopoda) des Landes Sachsen-Anhalt Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt 39 (2004) Bearbeitet von Karin VOIGTLÄNDER (1. Fassung, Stand: Februar 2004) Einführung Auf die Bedeutung und die Notwendigkeit für Bo- dentiere Rote Listen zu erarbeiten wurde bereits im Teil: Rote Liste der Hundertfüßer (Chilopoda) Sachsen-Anhalts hingewiesen. Auch für die Di- plopoden besteht großer Nachholbedarf. SPELDA (1998) macht für Baden-Württemberg erste Vor- schläge für diese Gruppe. Datengrundlagen Der faunistische Bearbeitungsstand der Diplopo- den Sachsen-Anhalts ist ähnlich schlecht wie der der Chilopoden. In der älteren Literatur liegen nur sporadische Hinweise vor (VERHOEFF 1916, 1917 - ohne Nennung konkreter Fundorte, SCHUBART 1934, 1963, MÜHLMANN 1942, v. BROEN et al. 1969). Erst umfangreiche Materialerhebungen im Rah- men ökologisch ausgerichteter Forschungsvorha- ben erbrachten in jüngster Zeit eine Reihe von neuen Nachweisen (STEINMETZGER 1982, VOIGTLÄN- DER 1995, 1996, 1999, 2000, 2003, ECKERT & BE- CKER 1996), deren Zahl durch die Aufsammlun- gen im Rahmen des Komplexprogramms Tieröko- logische Untersuchungen in gefährdeten Biotop- typen des Landes Sachsen-Anhalt. I. Zwerg- strauchheiden, Trocken- und Halbtrockenrasen. II. Feuchthabitate noch wesentlich erhöht wur- de. Insgesamt kamen ca. 32.500 Individuen von über 200 Standorten durch die Autorin zur Aus- wertung. Das Material befindet sich in der Samm- lung des Staatlichen Museums für Naturkunde Görlitz. Fundortangaben ohne Literaturhinweis entstammen diesem. Für Sachsen-Anhalt sind gegenwärtig 44 Diplo- poden-Arten bekannt. Eine vorläufige Check-List ist in Vorbereitung (VOIGTLÄNDER in präp.). Damit dürften etwa 2/3 der für das Gebiet zu erwarten- den Arten erfasst sein. Das Material entstammt ausschließlich Fallenfängen. Wenig laufaktive Arten (z.B. Enantiulus nanus) oder Bewohner von Sonderhabitaten (z.B. Cylindroiulus punctatus) werden damit kaum erfasst. Die Anwendung wei- Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) Artenzahl (absolut) Anteil an der Gesamtartenzahl (%) %& 0 - - Gefährdungskategorie R 1 2 4 - - 9,1 - - G -Kategorien D V 3 -Kat. Gesamt 3 -6,86,8 - terer Sammeltechniken könnte die Artenzahl noch erhöhen. Bemerkungen zu ausgewählten Arten In der Gefährdungskategorie R - Extrem seltene Arten mit geographische Restriktion werden Ar- ten zusammengefasst, die nur wenige, aber sta- bile Populationen in Sachsen-Anhalt aufweisen. Für die Einstufung der Diplopoden in diese Kate- gorie wurden maximal 4 räumlich getrennte Vor- kommen zugrunde gelegt. Im geprüften Material ähnlich selten wie die nach- folgend unter R eingestuften Arten sind auch die Arten Julus scanicus, Polydesmus testaceus und Nopoiulus kochii. Unter Berücksichtigung ihrer Verbreitung und Autökologie im gesamten Bun- desgebiet muss bei diesen Arten davon ausge- gangen werden, dass sie in Sachsen-Anhalt wei- ter verbreitet sind und nicht als gefährdet gelten sollten. Sie erhalten die Kategorie D - Daten de- fizitär. Brachychaeteuma bradeae: Die Art wurde in Sachsen-Anhalt nur in tiefen Bereichen der Bau- manns-, der Hermanns- und der Kammeruner Höhle im Harz gefunden (BROEN v. et al. 1969, ECKERT & BECKER 1996). Sie ist in ganz Deutsch- land selten und weit verstreut nachgewiesen. Cylindroiulus latestriatus: In ihren bisher bekann- ten Vorkommen ist diese Spezies nur auf zwei Sandtrockenrasen bei Sandfurth und Bindfelde beschränkt. SCHUBART (1934) nennt noch einen unsicheren Fund von Bad Kösen. In ihrer Gesamt- verbreitung zeigt sie eine deutliche Bevorzugung der Küstengebiete, wo sie auf Dünen oft der ein- zige Diplopode ist (SCHUBART 1934). C. latestria- tus erreicht in Sachsen-Anhalt die Südwestgren- ze ihres natürlichen Verbreitungsgebietes. Glomeris tetrasticha: Als Art kolliner bis monta- ner Wälder besiedelt G. tetrasticha ausschließ- lich feuchte Standorte im Bode- und Elendstal im 3 -Rote Liste 4 -9,1 Gesamt 44 Gesamt 44 Tab. 1: Übersicht zum Gefähr- dungsgrad der Doppelfüßer Sachsen-Anhalts. Tab. 2: Übersicht zur Einstufung in die sonstigen Kategorien der Roten Liste. Harz. Die Revision des von ECKERT gesammelten Materials erbrachte noch zwei Nachweise aus Höhlen bei Uftrungen (Südharz). Bei SCHUBART (1934) ist G. tetrasticha nicht von G. connexa C.L. KOCH, 1844 getrennt, so dass die von ihm genann- ten Funde nicht berücksichtigt werden können. Julus scanicus: J. scanicus wurde bisher aus- schließlich im Norden Deutschlands gefunden. Die Funde in Sachsen-Anhalt (Königerode/Harz und Bindfelde/Stendal) schließen an die in Branden- burg auf gleicher geographischer Breite gelege- nen an und bilden die südöstliche Verbreitungs- grenze. Mit häufigeren Nachweisen mindestens im Norden Sachsen-Anhalts kann gerechnet wer- den. Daher wird die Art in die Kat. D eingeordnet. Nopoiulus kochii: Diese für Sachsen-Anhalt schon von SCHUBART (1934) von mehreren Standorten gemeldete Art trat in den neueren Untersuchun- gen nur in einem Röhricht bei Bindfelde/Stendal auf. Da die Art im übrigen Deutschland weit ver- breitet ist, sie häufig in Massen meist in Holzstück- chen und unter Rinde vorkommt und daher mit Bodenfallen schlecht erfassbar ist, begründet sich ihre vermeintliche Seltenheit durch ungenügende Datenzahl. Polydesmus germanicus: P. germanicus ist besonders in der Rheinischen Tiefebene verbrei- tet. Der Fund eines einzigen Männchens auf ei- nem Trockenrasen im NSG Tote Täler bei Naum- burg stellt den östlichsten Nachweis dieser Art dar (VOIGTLÄNDER 2000). Die Art ist sehr wenig an der Bodenoberfläche aktiv, so dass sie mit Bodenfal- len nur schwer erfassbar ist. Polydesmus testaceus: Diese westeuropäische Art erreicht im Saale-Unstrut-Trias-Land ihre nord- östliche Verbreitungsgrenze. Mit Ausnahme eines Vorkommens in einem Auwald an der Saale bei Bad Kösen besiedelt sie hier vor allem Trocken- und Halbtrockenrasen auf Kalk (NSG Spielberger Höhe, Steigra, Platten bei Bad Kösen). Das ent- spricht ihrem bekannten Habitatverhalten. Da sie auch im angrenzenden Thüringen (Leutratal bei Jena) nachgewiesen ist (DUNGER & STEINMETZGER 1981), scheint eine Gefährdung der Art nicht zu bestehen. Sie wird daher zur Kategorie D gestellt. Danksagung Für die Überlassung umfangreichen Materials sowie Informationen zu den Untersuchungsflä- chen sei den Herren Dr. P. SCHNITTER und Dr. M. TROST (Landesamt für Umweltschutz Sachsen- Anhalt), Dr. P. SACHER (Nationalparkverwaltung Hochharz), Dr. C. SCHÖNBORN (Blankenburg), R. ECKERT (Berlin) sowie Frau Dr. A. STUBBE (Mar- tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) gedankt. Mein besonderer Dank gilt Frau M. WIESENHÜT- TER (Staatliches Museum für Naturkunde Görlitz) für die Zusammenstellung des umfangreichen Datenmaterials. Art. (wiss.)Kat.Bem. Brachychaeteuma bradeae (BRÖLEMANN & BRADE-BIRKS, 1917) Cylindroiulus latestriatus (CURTIS, 1845) Glomeris tetrasticha BRANDT, 1833 Julus scanicus LOHMANDER, 1925 Nopoiulus kochii (GERVAIS, 1847) Polydesmus germanicus VERHOEFF, 1896 Polydesmus testaceus C. L. KOCH, 1847R R R D D R DH, sl A, l M, sl A v A, sl A, l Abkürzungen und Erläuterungen, letzter Nachweis/ Quelle (Spalte Bem.)H- sl - l- v- LiteraturSCHUBART, O. (1963): Progoneata.- In BROHMER, P., EHRMANN, P. & G. ULMER (Hrsg.)(1963): Die Tierwelt Mitteleuropas. Bd. 2, Quelle & Meyer Leipzig, 1967: 1-30, Tafeln I-IV. SPELDA, J. 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6 Geradflügler (Orthoptera s.l.) in Sachsen-Anhalt M. WALLASCHEK 6.1 Kenntniszuwachs WEIDNER (1938a) schreibt, dass das Volk in Mit- teldeutschland fünf Gruppen von Geradflüglern kennt: die Heuschrecken, das Heimchen, die Schaben, den Ohrwurm und in manchen Ge- genden die Maulwurfsgrille. Das dürfte heute trotz aller modernen Tierfilme und Tierbücher nicht viel anders sein, wird doch das Volkswis- sen über Insektenarten, so auch Orthopterenar- ten, offenkundig durch deren wirtschaftliche oder gesundheitliche Bedeutung bestimmt. So kann es kaum verwundern, dass sich, soweit bekannt, die ältesten Aufzeichnungen über Ge- radflügler in unserem Raum auf Einfälle der Eu- ropäischen Wanderheuschrecke und die durch sie hervorgerufenen Schäden beziehen. Nach WEIDNER (1938a, 1940) wurde das Gebiet von Sachsen-Anhalt nachweislich z.B. 1338 (Raum Halle und Harz) und 1693 (Raum Naumburg) davon berührt. Gelegentlich haben sich wohl die Tiere auf dem Landesgebiet fortgepflanzt, so um 1875 in der Gegend von Körbelitz bei Magde- burg. Die Wissenschaft nahm allerdings auch damals schon andere Geradflüglerarten ins Blickfeld. Im Laufe der letzten drei Jahrhunderte wurde dabei zunehmend mehr Wert auf die genaue Angabe von Ort und Zeit des Fundes gelegt. So nannte RÜLING (1786) den Kleinen Zangen- träger, den Gemeinen Ohrwurm, die Orientali- sche Schabe, eine Waldschabe, das Grüne Heupferd, den Warzenbeißer, die Feldgrille, das Heimchen, die Maulwurfsgrille, die Europäische Wanderheuschrecke und die Rotflügelige Schnarrschrecke für den „Harz“. SAXESEN (1834) zählte die Zwitscherschrecke, den Warzenbeißer, die Kurzflügelige Beißschre- cke und die Rotflügelige Schnarrschrecke als Bewohner des „Oberharzes“, worunter er alle höheren Berge mit vorherrschendem Nadelholz- bestand fasste, auf. Er gab bereits einzelne, ihm besonders auffällige Fundorte genauer an, wo- bei allerdings keiner davon in Sachsen-Anhalt liegt. Von TASCHENBERG (1871) über ZACHER (1917) und LEONHARDT (1917, 1929) bis WEIDNER (1938a, 1940), RAPP (1943), KÜHLHORN (1955) und SCHIEMENZ (1969), um nur die wichtigsten älteren faunistischen Werke über sachsen- anhaltinische Orthopteren aufzuführen, erfolgte die Nennung von Fundorten vor allem in Form der Namen nächstgelegener Ortschaften. Teil- weise wurden sie mit einer genaueren Beschrei- bung der Lage der Fundlokalität, mit der Mee- reshöhe, dem Funddatum, einer Häufigkeitsan- gabe und der Biotopbeschreibung publiziert. Heute sollte es üblich sein, all diese Daten in faunistischen Veröffentlichungen aufzuführen, um die Wiederholbarkeit der Untersuchung und die Nutzung für Belange der Zoogeographie und Ökologie zu gewährleisten. Leider wird die in Jahrhunderten erreichte Einsicht in die Notwen- digkeit einer genauen Dokumentation von Fun- den derzeit nicht selten ignoriert, indem man z.B. die Lage von Fundorten nur als Meß- tischblatt(quadranten)nummern bekannt gibt. Wissenschaftliche Veröffentlichungen über Vor- kommen und Verbreitung von rezenten Gerad- flüglern auf dem Landesgebiet von Sachsen- Anhalt beginnen mit BURMEISTER (1838), der den Fund eines Weibchens von Myrmecophilus a- cervorum auf einer Chaussee in Halle (Saale) meldete. Seitdem sind 35 Publikationen mit faunistischen Primärdaten über Ohrwürmer erschienen, über Fangschrecken sind es 2, über Schaben 34 und über Heuschrecken 160. Die Verteilung über Zeitintervalle von je einem halben Jahrhundert Länge zeigt die enorme Zunahme der Publikati- onstätigkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahr- hunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts (Abb. 1). Inzwischen gibt es kaum noch eine Region, aus der nicht wenigstens eine Veröffent- lichung vorliegt (vgl. WALLASCHEK 1996d) und ist die erste Arbeit mit Verbreitungskarten von Ge- radflüglerarten für das Land Sachsen-Anhalt publiziert worden (WALLASCHEK et al. 2002). Bisher sind fünf Ohrwurm-, eine Fangschrecken-, zehn Schaben-, 27 Langfühlerschrecken- und 34 Kurzfühlerschreckenarten aus dem Landes- gebiet bekannt geworden, also 77 Species. Die Kenntnis der Zahl der rezenten Orthopterenar- ten hat in den oben genannten Intervallen er- heblich zugenommen, wobei die Phase des stärksten Kenntniszuwachses in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag (Abb. 2). Ende der zweiten Hälfte des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts resultierten Neufunde vor allem aus intensiverer Nachsuche, darunter auch nach Irrgästen und synanthropen Arten. Die Gesamtzahl der Datensätze nimmt für die Orthopterenordnungen Sachsen-Anhalts folgen- de Werte an: Dermaptera 943, Mantodea 1, Blattoptera 426, Ensifera 12.959, Caelifera 21.621, zusammen also 35.950. 23 Die Verteilung der Anzahl von Publikationen wie auch Datensätzen auf die einzelnen Zeitab- schnitte (Abb. 1, Abb. 3) ist auf einen Wandel der gesellschaftlichen Bedeutsamkeit faunisti- scher Forschungen an heimischen Orthopteren zurückzuführen. Lange Zeit befassten sich nur einzelne Forscher mit der Faunistik. Synanthro- pe Schaben und Heuschrecken erlangten in Folge der Zunahme der menschlichen Bevölke- rungsdichte stärkere Beachtung aus hygieni- scher Sicht, was sich jedoch zumeist nicht in ei- ner wesentlichen Befruchtung des faunistischen Kenntnisstandes durch Mediziner, Hygieniker und Schädlingsbekämpfer ausdrückte. Obwohl einzelne Ohrwurm- und Heuschrecken- arten zuweilen erhebliche Schäden im Garten- und Obstbau anrichten können, andererseits Ohrwürmer für den biologischen Pflanzenschutz Bedeutung erlangt haben, steuern Agrarwissen- schaftler und Landwirte bisher ebenfalls nur sel- ten faunistische Kenntnisse über diese Arten bei. Nach der politischen Wende 1989/1990 lösten die enorm gestiegenen wirtschaftlichen und rechtlichen Anforderungen eine große Zahl von Eingriffs- und Naturschutzplanungen aus. Das führte zu einer rasanten Zunahme der Datensät- ze, auch für die bisher vernachlässigten Ohr- würmer und Schaben (Abb. 3). Sie zeigt, dass diese heimischen Orthopterentaxa über die wirt- schaftliche oder gesundheitliche Bedeutung ein- zelner Vertreter hinaus einen erheblichen Stel- lenwert in der Umweltüberwachung und – vorsorge sowie in der zoogeographischen und ökologischen Forschung erhalten haben. Belegt wird das zunehmende Interesse an den heimischen Geradflüglern auch durch die nicht geringe Zahl von 26 Sekundärveröffentlichungen mit direktem Bezug auf Sachsen-Anhalt (z.B. Faunenwerke, Checklisten, Rote Listen, Listen charakteristischer Arten von FFH- Lebensraumtypen und Landschaften, Arten- und Biotopschutzprogramme). Völlig losgelöst von Forschungen an den rezen- ten Orthopteren Sachsen-Anhalts liefen bisher paläoentomologische Untersuchungen, über de- ren Ergebnisse immerhin 13 Publikationen vor- liegen. Dabei besitzen fossile Geradflügler aus heimischen Lagerstätten eine weit über die Lan- desgrenzen hinaus reichende Bedeutung (WAL- LASCHEK 2003d). Sie werfen ein Schlaglicht auf die Vielfalt und das gewaltige Ausmaß der or- thopterologischen und geographischen Verän- derungen auf dem Landesgebiet, in Mitteleuropa und auf der nördlichen Halbkugel, die sich of- fensichtlich teils sprunghaft, teils kaum merklich vollzogen haben. Auch daran wird das Momen- tane der hier vorliegenden Arbeit sichtbar. 250 Publikationen 200 150 100 50 0 bis 1849 1850-1899 1900-1949 1950-1999 Zeitraum Dermaptera Mantodea Blattoptera Saltatoria Abb. 1: Kumulierte Zahl von Publikationen mit rezenten faunistischen Primärdaten. 24 2000-2004 80 70 60 Artenzahl 50 40 30 20 10 0 bis 1849 1850-1899 1900-1949 1950-1999 2000-2004 Zeitraum Dermaptera Mantodea Blattoptera Ensifera Caelifera Abb. 2: Kumulierte Zahl aus Sachsen-Anhalt publizierter rezenter Orthopterenarten. 40000 35000 Datensätze 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0 bis 1949 1950-1999 2000-2004 Zeitraum Dermaptera, Mantodea, Blattoptera Ensifera Caelifera Abb. 3: Kumulierte Zahl von Datensätzen. 25
Ohrwürmer (Dermaptera) Bestandsentwicklung. 2. Fassung, Stand: Juni 2013 Michael Wallaschek Die weltweit ältesten Funde von Dermapteren datie- ren bis in das Erdmittelalter, genauer in das Jura von Karatau in Südkasachstan, zurück. Aus dem erdneu- zeitlichen oberoligozänen bis untermiozänen Bitterfel- der Bernstein sind Reste von Ohrwürmern bekannt, die einer noch heute in Sachsen-Anhalt vertretenen Familie angehören, den Forficulidae. Von den derzeit ungefähr 1.300 Ohrwurmarten der Erde wurden bisher in Deutschland acht und in Sach- sen-Anhalt fünf nachgewiesen. Trotz dieser geringen Artenzahl zeigt sich die Dermapterenfauna des Landes in systematischer, zoogeographischer und ökologischer Hinsicht erstaunlich vielfältig. So gehören alle Spezies je eigenen Gattungen an, die sich auf drei verschiedene Familien (Forficulidae, Labiidae, Labiduridae) verteilen. Es finden sich neben drei Kosmopoliten (Forficula au- ricularia, Labia minor, Labidura riparia) zwei auf Teile Europas beschränkte Arten (Apterygida media, Che- lidurella guentheri). Die deutschen Namen der hei- mischen Ohrwürmer beschreiben, außer bei der synan- thropen Labia minor, auf treffende Weise die deutlich verschiedenen Vorzugslebensräume bzw. im Falle von Forficula auricularia das, allerdings nur scheinbar, ubi- quistische Auftreten. Alle heimischen Dermapteren be- sitzen die unverwechselbaren Zangen am Hinterleibs- ende und das gleiche lichtscheue, nach Kontakt mit dem Substrat suchende und eine hohe Luftfeuchtigkeit lie- bende Wesen. Alle heimischen Ohrwurmarten können wegen ih- rer differenzierten Zoogeographie und Ökologie unter bestimmten Umständen als Indikator für Belange des Naturschutzes und der Landschaftsplanung eingesetzt Männchen des Gemeinen Ohrwurms (Forficula auricularia). Halle, 30.11.2014, Foto: D. Frank. 666 werden. In einigen Lebensräumen des Anhangs I der FFH-Richtlinie gehören Ohrwürmer zu den dominan- ten oder typischen Wirbellosen (z. B. Chelidurella guen- theri in Rotbuchen- und Eichen-Hainbuchenwäldern, Labidura riparia auf Dünen). Bei Chelidurella guentheri umfasst der in Deutschland liegende Arealteil zwischen einem Zehntel und einem Drittel des Gesamtareals, weshalb Deutschland und damit Sachsen-Anhalt nach einer von Maas et al. (2002) vorgeschlagenen, inzwi- schen umbenannten (vgl. Maas et al. 2011) Skala für die Art „in hohem Maße verantwortlich“ sind. Innerhalb Deutschlands besitzt Labidura riparia einen Verbrei- tungsschwerpunkt in Sachsen-Anhalt, was die Verant- wortlichkeit des Landes für die Art unterstreicht. Aufgrund ihrer zoo- oder pantophagen Ernährungs- weise eignen sich manche Ohrwurmarten für die bio- logische Schädlingsbekämpfung (z. B. Labidura riparia, Forficula auricularia, Apterygida media). Nicht uner- wähnt soll bleiben, dass Forficula auricularia gelegent- lich als Pflanzen- und Vorratsschädling, Lästling und in seltenen Fällen durch Verschleppung von Krankheits- erregern der Kulturpflanzen und des Menschen in Er- scheinung treten kann. Die Kenntnis der Ohrwurmfauna Sachsen-Anhalts im Hinblick auf Zoogeographie, Ökologie, Gefährdung, Schutz und Bedeutung konnte in den letzten 20 Jahren erheblich verbessert werden, insbesondere durch das Projekt „Zoogeographische und ökologische Untersu- chungen für eine Fauna der Heuschrecken, Ohrwürmer und Schaben des Landes Sachsen-Anhalt“ und nachfol- gende Arbeiten zur Aktualisierung (Wallaschek et al. 2004, 2013: 1.460 Art-Fundort-Fundzeit-Datensätze). Im Ergebnis müssen noch immer beachtliche, vor allem methodisch bedingte Wissenslücken weniger zur Öko- logie als vielmehr zur Verbreitung der indigenen Ohr- wurmarten konstatiert werden. Deshalb sind neben den Entomologen auch die Fachleute in Land- und Forst- wirtschaft, Gartenbau und Schädlingsbekämpfung auf- gerufen, ihre Ohrwurm-Funde zu publizieren oder an die Orthopterologen des Landes weiterzugeben. Die Systematik und Nomenklatur richtet sich nach Harz & Kaltenbach (1976). Die Korrektur der Na- mensgebung bei Chelidurella guentheri erfolgte nach Klaus (2010). An Synonymen sind solche in der Origi- nalschreibweise angegeben, die für das Verständnis der älteren faunistischen Literatur Sachsen-Anhalts von Bedeutung sind. Ausführliche Listen von Synonyma finden sich in Zacher (1917) und Harz & Kalten- bach (1976). Die deutschen Namen folgen weitgehend Frank, D. & Schnitter, P. (Hrsg.): Pflanzen und Tiere in Sachsen-Anhalt Harz (1957). Die in Wallaschek et al. (2004) errech- neten Distributionsklassen waren zwar die Grundlage für die Einschätzung der Bestandssituation, doch wur- den im vorliegenden Beitrag die neueren Erkenntnisse zur Verbreitung (Wallaschek 2013) sowie die Kennt- nisse zur ökologischen Zoogeographie der Arten einbe- zogen. Daher weichen die Einstufungen meist um zwei Klassen nach oben ab. Keine der Ohrwurmarten ist ge- setzlich geschützt. Die Angaben zur Roten Liste der Ohr- würmer Sachsen-Anhalts stammen aus Wallaschek (2004). Sämtliche Nachweise beruhen auf Wallaschek (2013), weshalb auf die entsprechende Spalte in der Ta- belle verzichtet wurde. Danksagung Den Herren B. Schäfer (Stendal), R. Schweigert (Dit- furt) und M. Unruh (Großosida) sei herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für Hinweise gedankt. Literatur Harz, K. (1957): Die Geradflügler Mitteleuropas. – Gus- tav Fischer, Jena, 495 S. Harz, K. & Kaltenbach, A. (1976): Die Orthopteren Europas III. – Ser. Entomol., Vol. 12, Junk, The Hague, 434 S. Klaus, D. (2010): Anmerkungen zu den sächsischen Altfunden von Anechura bipunctata (Fabricius) und Korrekturhinweise zu den Checklisten der Schaben und Ohrwürmer Sachsens (Dermaptera, Blattopte- ra). – Mitt. sächs. Entomol. (Mittweida) Nr. 90: 3–11. Maas, S.; Detzel, P. & Staudt, A. (2002): Gefährdungs- analyse der Heuschrecken Deutschlands. Verbreitungs- atlas, Gefährdungseinstufung und Schutzkonzepte. – Bundesamt für Naturschutz, Bonn-Bad Godes- berg, 401 S. Maas, S.; Detzel, P. & Staudt, A. (2011): Rote Liste und Gesamtartenliste der Heuschrecken (Saltatoria) Deutsch- lands. 2. Fassung, Stand Ende 2007. – Naturschutz Biol. Vielfalt (Bonn-Bad Godesberg) 70 (3): 577–606. Wallaschek, M. (unter Mitarbeit von Oelerich, H.-M.; Richter, K. & Schulze, M.) (2004): Rote Liste der Ohr- würmer (Dermaptera) des Landes Sachsen-Anhalt (2. Fassung, Stand: Februar 2004). – Ber. Landesamt. Umweltschutz Sachsen-Anhalt (Halle) 39: 220–222. Wallaschek, M.; Langner, T. J. & Richter, K. (unter Mitarbeit von Federschmidt, A.; Klaus, D.; Miel- ke, U.; Müller, J.; Oelerich, H.-M.; Ohst, J.; Osch- mann, M.; Schädler, M.; Schäfer, B.; Scharapen- ko, R.; Schüler, W.; Schulze, M.; Schweigert, R.; Steglich, R.; Stolle, E. & Unruh, M.) (2004): Die Geradflügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Dermaptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caeli- fera). – Ber. Landesamt. Umweltschutz Sachsen-An- halt (Halle) SH 5/2004: 1–290. Wallaschek, M. (unter Mitarbeit von Elias, D.; Klaus, D.; Müller, J.; Schädler, M.; Schäfer, B.; Schul- ze, M.; Steglich, R. & Unruh, M.) (2013): Die Ge- radflügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Der- maptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caelifera): Aktualisierung der Verbreitungskarten. – Entomol. Mitt. Sachsen-Anhalt (Schönebeck) SH 2013: 1–100. Zacher, F. (1917): Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. – Gustav Fischer, Jena, 287 S. Anschrift des Verfassers Dr. Michael Wallaschek Agnes-Gosche-Straße 43 06120 Halle (Saale) Tab. 29.1: Bestandsentwicklung der Ohrwürmer in Sachsen-Anhalt Zusätzliche Anmerkung: Rote Liste (RL) Bezug auf Wallaschek (2004) Art BR BS BE Apterygida media (Hagenbach, 1822) T, H mh0 Chelidurella guentheri Galvagni, 1994mh0 Forficula auricularia L., 1758 Labia minor (L., 1758)sh mh0 0 s Labidura riparia (Pallas, 1773) T, H UV 1.1.12.1, 1.2 1.1.12.1, 3.2.4.1, 3.2.9.1 8., 12.5, 13.2 SM 1.5.2.1, 1.10 1.5.2.1, 2.2.1, 2.2.5 4.4, 8.3, 7.2, 7.4, 12.1.6 RL Bm Synonym, Deutsche Namen Sphingolabis albipennis Megerle, 1825; Gebüsch-Ohrwurm Chelidurella acanthopygia (Géné, 1832); Wald-Ohrwurm 2 V Gemeiner Ohrwurm Forficula minor L., 1758; Kleiner Zangenträger Forficula gigantea F., 1787; Sand-Ohrwurm 667 Pflanzen und Tiere in Sachsen-Anhalt Ein Kompendium der Biodiversität Dieter Frank und Peer Schnitter (Hrsg.) Landesamt für Umweltschutz Sachsen-Anhalt 3
Fangschrecken (Mantodea) und Schaben (Blattoptera) Bestandsentwicklung. 2. Fassung, Stand: Juni 2013 Michael Wallaschek Schaben Anthracoblattina didyma (Rost, 1839) ist für die Palä- ontologie in Sachsen-Anhalt etwas ganz Besonderes. Es handelt sich wahrscheinlich um die erste Beschreibung einer paläozoischen Schabenart überhaupt und zugleich um den ersten aus den Wettiner Schichten des Stefan C, der oberen Abteilung des Oberkarbons, beschriebenen Insektenrest. Diese Spezies steht stellvertretend für die arten- und individuenreiche, systematisch, zoogeogra- phisch und ökologisch gut differenzierte Schabenfauna der Steinkohlenzeit im Gebiet zwischen Halle (Saale), Wettin, Löbejün und Plötz in Sachsen-Anhalt. Diese Diversität erreichte die Artengruppe im Laufe der Erdgeschichte in unserem Gebiet nicht wieder, auch in der Gegenwart nicht. Im Perm fanden sich lediglich Reste von je einer Schabenart bei Plötz und Sennewitz. Aus den mitteleozänen Ablagerungen des Geiseltales wurden Überbleibsel von nur sechs Schabenarten ge- borgen, darunter aus der noch heute in Sachsen-Anhalt vertretenen Familie Ectobiidae. Derzeit sind aus dem Landesgebiet zwar zehn Blatto- pterenspezies bekannt, aber davon sind nur drei wildle- bend. Sieben sind hingegen aus den Subtropen und Tro- pen eingeschleppt worden und an die Lebensstätten des Menschen gebunden, also synanthrop. In Deutschland ist mit sieben wildlebenden, fünf regelmäßig reprodu- zierenden synanthropen sowie mehreren gelegentlich eingeschleppten Spezies (Köhler & Bohn 2011) nur ein Bruchteil der rezenten ca. 4.000 Schabenarten präsent. Allen Schabenarten ist ihr ursprünglicher Lebensraum, der feuchtwarme, dunkle, tropische Urwald, an ihrem abgeflachten, im Umriss ovalen Körper, an ihrer Vorliebe für lichtlose, enge Schlupfwinkel, an ihrer Flinkheit und an dem breiten Nahrungsspektrum anzumerken. Wegen dieser morphologischen, ethologischen und ökologischen Ausstattung sind einige synanthrope Scha- benarten in der Lage, die Wohn- und Arbeitsstätten des Menschen zu nutzen. Sie vermehren sich hier in teils ex- tremem Ausmaß und werden so zu bedeutenden Über- trägern von Krankheitserregern des Menschen. Daneben spielen sie als Vorrats-, Material- und Pflanzenschädlin- ge eine Rolle. Hingegen treten die wildlebenden Schabenarten so selten in Erscheinung, dass viele Menschen gar nichts von ihrer Anwesenheit in heimischen Wäldern wissen. Hier sind sie als Zerkleinerer organischer Substanzen von Bedeutung im Stoffkreislauf. Naturschutz und Land- schaftsplanung können sie aber aufgrund ihrer spezi- fischen ökologischen Ansprüche und teils wegen ihrer zoogeographischen Bedeutung mit Nutzen für Pla- nungen und Maßnahmen in Waldlandschaften einset- zen. Hervorzuheben ist, dass die freilebenden Scha- benarten für bestimmte Lebensräume des Anhangs I der FFH-Richtlinie kennzeichnend sind, z. B. Ectobius sylvestris für einzelne Moortypen und Phyllodromica maculata für Halbtrockenrasen. Bei der letztgenannten Art verläuft die nordwestliche Grenze des auf Südost- europa und Teile Mitteleuropas beschränkten Areals durch Sachsen-Anhalt. Die Kenntnis der Schabenfauna Sachsen-Anhalts im Hinblick auf Zoogeographie, Ökologie, Gefährdung, Schutz und Bedeutung konnte in den letzten 20 Jahren erheblich verbessert werden, insbesondere durch das Projekt „Zoogeographische und ökologische Untersu- chungen für eine Fauna der Heuschrecken, Ohrwürmer und Schaben des Landes Sachsen-Anhalt“ und nachfol- gende Arbeiten zur Aktualisierung (Wallaschek 2013: 613 Art-Fundort-Fundzeit-Datensätze). Im Ergebnis müs- sen noch immer beachtliche, vor allem methodisch be- dingte Wissenslücken zur Verbreitung der indigenen und der synanthropen Schabenarten konstatiert wer- den. Deshalb sind auch die Fachleute in Schädlings- bekämpfung, Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau und Lagerwirtschaft aufgerufen, ihre Schaben-Funde zu publizieren oder an die Orthopterologen des Landes weiterzugeben. Fangschrecken Deutsche Schabe (Blattella germanica) - die in Sachsen-Anhalt am weitesten verbreitete synanthrope Schabenart. © Moon Art – www.fotalia.com. 668 Die Fangschrecken sind recht eng mit den Schaben verwandt, wie sich am besten an den ähnlich gebauten Eipaketen erkennen lässt. Deshalb werden beide Taxa Frank, D. & Schnitter, P. (Hrsg.): Pflanzen und Tiere in Sachsen-Anhalt hier gemeinsam behandelt. Fossile Mantodeenfunde gab es bisher vergleichsweise selten, vermutlich sind aber die Urahnen dieser Tiergruppe im Perm zu suchen. In Sachsen-Anhalt wurden Larven der beiden Familien Chaeteessidae und Mantidae im oberoligozänen bis untermiozänen Bitterfelder Bernstein gefunden. Von den weltweit etwa 2.000, vorwiegend tropisch und subtropisch verbreiteten Fangschrecken-Arten be- sitzt Deutschland nur eine Vertreterin. Es handelt sich um die seltene, wegen der charakteristischen Fang- beine, der stark verlängerten Vorderbrust, des kleinen dreieckigen Kopfes mit den hochleistungsfähigen Kom- plexaugen und des oftmals traurigen Schicksals der Männchen doch allgemein bekannte Mantis religiosa. Praktische Bedeutung kommt der Art bei uns nicht zu. Eine erste Meldung für Sachsen-Anhalt erfolgte 1991 in Magdeburg, wobei sich die Gottesanbeterin hier nicht dauerhaft etablieren konnte. Derzeit bestehen am Geisel- talsee bei Mücheln reproduzierende Vorkommen der Art (Wallaschek 2013). Die Systematik und Nomenklatur richtet sich nach Harz & Kaltenbach (1976). An Synonymen sind solche in der Originalschreibweise angegeben, die für das Verständnis der älteren faunistischen Literatur Sachsen-Anhalts von Bedeutung sind. Ausführliche Listen von Synonyma fin- den sich in Zacher (1917) und Harz & Kaltenbach (1976). Die deutschen Namen folgen bei wildlebenden Arten Harz (1957), bei synanthropen weitgehend Weid- ner (1993). Die in Wallaschek et al. (2004) für Fang- schrecken und Schaben errechneten Distributionsklas- sen waren zwar die Grundlage für die Einschätzung der Bestandssituation, doch wurden im vorliegenden Beitrag die neueren Erkenntnisse zur Verbreitung (Wallaschek 2013) sowie Kenntnisse zur ökologischen Zoogeogra- phie der Arten einbezogen. Daher weichen die Einstu- fungen meist um ein bis zwei Klassen nach oben ab. Die Angaben zur Roten Liste der Schaben Sachsen-Anhalts stammen aus Wallaschek (2004). Sämtliche Nachweise beruhen auf Wallaschek (2013), weshalb auf die ent- sprechende Spalte in der Tabelle verzichtet wurde. Köhler, G. & Bohn, H. (2011): Rote Liste der Wild- schaben und Gesamtartenliste der Schaben (Blatto- ptera) Deutschlands. Stand Mai 2011. – Naturschutz Biol. Vielfalt (Bonn-Bad Godesberg) 70 (3): 609–625. Wallaschek, M. (unter Mitarbeit von Mielke, U. & Stolle, E.) (2004): Rote Liste der Schaben (Blatto- ptera) des Landes Sachsen-Anhalt (2. Fassung, Stand: Februar 2004). – Ber. Landesamt. Umweltschutz Sachsen-Anhalt (Halle) 39: 217–219. Wallaschek, M.; Langner, T. J. & Richter, K. (unter Mitarbeit von Federschmidt, A.; Klaus, D.; Miel- ke, U.; Müller, J.; Oelerich, H.-M.; Ohst, J.; Osch- mann, M.; Schädler, M.; Schäfer, B.; Scharapen- ko, R.; Schüler, W.; Schulze, M.; Schweigert, R.; Steglich, R.; Stolle, E. & Unruh, M.) (2004): Die Geradflügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Dermaptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caelife- ra). – Ber. Landesamt. Umweltschutz Sachsen-Anhalt (Halle) SH 5/2004: 1–290. Wallaschek, M. (unter Mitarbeit von Elias, D.; Klaus, D.; Müller, J.; Schädler, M.; Schäfer, B; Schulze, M.; Steglich, R. & Unruh, M.) (2013): Die Gerad- flügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Derma- ptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caelifera): Aktualisierung der Verbreitungskarten. – Entomol. Mitt. Sachsen-Anhalt (Schönebeck) SH 2013: 1–100. Weidner, H. (1993): Bestimmungstabellen der Vorrats- schädlinge und des Hausungeziefers Mitteleuropas. 5. Aufl. – Fischer, Stuttgart, Jena, New York, 328 S. Zacher, F. (1917): Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. – Fischer, Jena, 287 S. Anschrift des Verfassers Dr. Michael Wallaschek Agnes-Gosche-Straße 43 06120 Halle (Saale) Danksagung Den Herren B. Schäfer (Stendal), R. Schweigert (Dit- furt) und M. Unruh (Großosida) sei herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für Hinweise gedankt. Literatur Harz, K. (1957): Die Geradflügler Mitteleuropas. – Gu- stav Fischer, Jena, 495 S. Harz, K. & Kaltenbach, A. (1976): Die Orthopteren Europas III. – Ser. Entomol., Vol. 12, Junk, The Hague, 434 S. 669 Fangschrecken (Mantodea) und Schaben (Blattoptera) Tab. 30.1: Bestandsentwicklung der Fangschrecken und Schaben in Sachsen-Anhalt Zusätzliche Anmerkung Rote Liste (RL) Bezug auf Wallaschek (2004) Art Mantodea (Fangschrecken) Mantis religiosa L., 1758 Blattoptera (Schaben) Blaberus craniifer Burmeister, 1838 Blatta orientalis L., 1758 BRBS BE T, Hss T, Hss mh Ectobius lapponicus (L., 1758)mh 0 Ectobius sylvestris (Poda, 1761)mh 0 Periplaneta americana (L., 1758) Periplaneta australasiae (F., 1775) Phyllodromica maculata T, H (Schreber, 1781)s 0 ss 0 s 0– Pycnoscelus surinamensis (L., 1758) Supella longipalpa (F., 1798)ss 670 RL Ges. Bm Synonym, Deutscher Name § BA NGottesanbeterin UBlaberus fuscus (Burmeister, 1838); Riesenschabe Periplaneta orientalis (L., 1758); Orientalische Schabe Blatta germanica L., 1767; Deutsche Schabe Blatta hemiptera L., 1758; Gemeine Waldschabe sh 0– ss SM Blattella germanica (L., 1767) T UV N 3.1, 2.2.5, 3.2.4.1, 2.4.7, 3.2.12, 2.4.8, 3.2.18 2.4.10 3.1, 2.2.5, 3.2.4.1, 2.4.7, 3.2.12, 2.4.8, 3.2.18 2.4.10 3.1, 2.2.5, 3.2.4.1, 2.4.7, 3.2.12, 2.4.8, 3.2.18 2.4.10 Blatta lapponica L., 1758; Podas Waldschabe V N N AAmerikanische Schabe Australische Schabe Aphlebia maculata Schreber, 1781; Hololampra maculata Schreber, 1781; Gefleckte Kleinschabe ULeucophaea surinamensis L., 1758; Surinamschabe Phyllodromia supellectilium (Serville, 1839); Braunbandschabe N
4 Einleitung M. WALLASCHEK, T. J. LANGNER & K. RICHTER Für viele Menschen dürfte sich die Frage stellen, warum hier eine Publikation über Ohrwürmer, Fangschrecken, Schaben und Heuschrecken vorgelegt wird. Daher soll ein Überblick dieser Insektengruppen, die als Geradflügler oder Or- thopteren (Orthoptera s.l.) zusammengefasst werden können, vorangehen. Dem folgt eine Darstellung der Geschichte und der Ziele des Projektes, dessen wichtigstes Ergebnis diese Veröffentlichung bildet. Ohrwürmer - Dermaptera Die weltweit etwa 1300 rezenten Ohrwurmarten sind ausgesprochene Dämmerungs- und Nacht- tiere, die zugleich eine hohe Luftfeuchtigkeit ver- langen. Sie bevorzugen Schlupfwinkel, in denen sie mit möglichst vielen Körperstellen Kontakt mit dem Substrat haben. Angegriffen, wehren sie sich durch Kneifen mit den typischen Zangen und durch Absonderung eines die Haut ätzen- den Sekretes (GÜNTHER 2000a). Nur acht Ohrwurmarten sind in Deutschland in- digen (MATZKE 2000, WALLASCHEK 1998b). An- gesichts dieser geringen Artenzahl sowie der auf Ekel und Angst beruhenden Einstellung vieler Menschen diesen Tieren gegenüber kann das mangelnde Interesse an den Dermapteren nicht verwundern. Allerdings hat sich herausgestellt, dass heimische Ohrwurmarten in bestimmten Lebensräumen zu den dominanten Tierarten oder -gruppen hinsichtlich Siedlungsdichte und Biomasse gehören können (ELLENBERG et al. 1986). Von einzelnen Dermapterenarten ist be- kannt, dass sie sehr spezielle ökologische An- sprüche besitzen (HARZ 1957). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich die heimische Ohrwurm- fauna zudem in ihrer Zoogeographie und Ökolo- gie erstaunlich vielfältig (WALLASCHEK 1998b). Die zoo- oder pantophage Ernährungsweise hat Untersuchungen zum Einsatz von Dermaptere- narten, darunter auch heimischen, für die biolo- gische Schädlingsbekämpfung angeregt (CAUS- SANEL & ALBOUY 1991). In der Kleingartenpraxis wird der bekannte Gemeine Ohrwurm mancher- orts bereits in diesem Sinne gefördert. Gelegent- lich mag er aber auch als Pflanzen- oder Vor- ratsschädling, Lästling und in seltenen Fällen durch Verschleppen von Krankheitserregern der Kulturpflanzen und des Menschen in Erschei- nung treten (BEIER 1959). Nicht unerwähnt soll bleiben, dass den heimi- schen Dermapterenarten, -faunen und -taxo- zönosen in gewissem Umfang Zeigerfunktion für die Landschaftsstruktur, den Grad des anthro- pogenen Einflusses und einzelne ökologische Faktoren zukommen kann. Somit lassen sie sich durchaus im Rahmen der Bioindikation in der Landschaftsplanung einsetzen (WALLASCHEK 1998b). Fangschrecken - Mantodea Von den weltweit etwa 2000 Arten besitzt Deutschland nur einen Vertreter (GÜNTHER 2000b). Es handelt sich um die trotz ihrer hiesi- gen Seltenheit wegen der charakteristischen Fangbeine, der stark verlängerten Vorderbrust, des kleinen dreieckigen Kopfes mit den hoch- leistungsfähigen Komplexaugen und des nicht selten traurigen Schicksals der männlichen Tiere allgemein bekannte Gottesanbeterin. Die Fangschrecken sind recht eng mit den Schaben verwandt, wie sich am besten an den ähnlich gebauten Eipaketen erkennen lässt. Die Tiere zeigen eine vorwiegend tropische und sub- tropische Verbreitung. Fossile Mantodeenfunde gelangen bisher vergleichsweise selten, vermut- lich sind aber die Urahnen dieser Tiergruppe im Perm zu suchen. Praktische Bedeutung kommt den Fangschrecken bei uns nicht zu, sieht man von den wenigen indigenen Vorkommen der Gottesanbeterin in Deutschland als interessante Naturdenkmale ab. In einem Falle wurde diese Art in Sachsen-Anhalt eingeschleppt. Schaben - Blattoptera Die Schaben sind nach BEIER (1961) die einzige heute noch lebende Insektenordnung, die sich in ununterbrochener Reihe bis in das mittlere O- berkarbon zurückverfolgen lässt. Die große Zahl von fossilen Resten aus den paläozoischen Schichten der ganzen Welt, die alle übrigen In- sektenreste weitaus übertrifft, legt nahe, dass die Ordnung am Ausgang des Karbon und im Perm hinsichtlich Formenmannigfaltigkeit sowie Arten- und Individuenreichtum den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht hat und seither lang- sam im Rückgang begriffen ist. Der ursprüngli- che Lebensraum der abgeflachten, im Umriß ovalen und lauffreudigen Tiere ist wohl in feucht- warmen, dunklen, tropischen Urwäldern zu suchen, wo sie geeignete Verstecke im Boden- laub, unter Steinen und loser Rinde sowie Nahrung in Form tierischer und pflanzlicher Stof- fe im Überfluss fanden. Hier lebt auch heute noch ein Großteil der ca. 4000 rezenten Arten (GÜNTHER 2000c). 11 In Deutschland sind bisher sieben freilebende, fünf regelmäßig reproduzierende synanthrope sowie mehrere gelegentlich eingeschleppte Ar- ten nachgewiesen worden (BOHN 1989, 2003, GÖTZ 1965, HARZ 1960, POSPISCHIL 2004, SCHIEMENZ 1978, VATER & LÖFFLER 1989, WAL- LASCHEK 1998f). Die synanthropen Schabenar- ten besitzen als Überträger von Krankheitserre- gern eminente Bedeutung, daneben auch als Vorrats-, Material- und Pflanzenschädlinge (BEI- ER 1961, VATER et al. 1992). Die freilebenden Schabenarten kollidieren hin- gegen als pantophage Waldbewohner in keiner Weise mit den Interessen des Menschen, wenn man nicht gelegentliches Eindringen der Gemei- nen Waldschabe in Waldhäuser (WEIDNER 1972, MIELKE 2000b) als Belästigung einstufen will. Neben ihrer Wirkung im Stoffkreislauf des Wal- des kommt ihnen Bedeutung für die Bewertung von Waldlandschaften im Zuge von Planungen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu (WALLASCHEK 1997d, 2002a). Langfühlerschrecken - Ensifera und Kurzfüh- lerschrecken - Caelifera Im Ergebnis phylogenetischer Untersuchungen werden seit einigen Jahren die beiden Ordnun- gen Langfühlerschrecken und Kurzfühlerschre- cken mit ca. 9000 bzw. 11000 Arten unterschie- den, die bis dahin als Unterordnungen der Heu- schrecken (Saltatoria) galten (GÜNTHER 2000d). Dieser traditionelle Begriff wird im folgenden dort verwendet, wo es sprachlich oder inhaltlich sinnvoll erscheint. MAAS et al. (2002) führen in ihrer Checkliste 84 Heuschreckenarten (Ensifera: 40, Caelifera: 44) für Deutschland. Es handelt sich dabei um alle seit 1850 in Deutschland sicher registrierten Ar- ten mit Ausnahme eingeschleppter Taxa, die sich bisher hier nicht fortpflanzen konnten. Heuschrecken besitzen meist als Primärkonsu- menten, ein Teil auch als Sekundärkonsumen- ten Bedeutung in terrestrischen Ökosystemen. Im Grasland können die Tiere mit den sprich- wörtlichen Sprungbeinen zu den dominanten Wirbellosengruppen gehören. In extrem er- scheinender Weise tritt uns dies in Form von Schwärmen der Wanderheuschreckenarten, von denen es weltweit etwa zehn gibt (BEIER 1955), gegenüber. Das bedeutet für seßhafte Acker- bauern in den betroffenen Ländern, wie auch früher in Mitteldeutschland (VATER 1994), Ver- heerung der Saaten, Teuerung und Hungersnö- te. Nomaden können Wanderheuschrecken hin- gegen heute noch recht effektiv als protein- und vitaminreiche Nahrung nutzen (SCHIMITSCHEK 1968). Obwohl uns die Europäische Wanderheuschre- cke in Folge der meliorativen Vernichtung ihrer südosteuropäischen Brutplätze (WEIDNER 1938a) schon lange nicht mehr heimgesucht 12 hat, kennen auch wir noch bodenständige Heu- schreckenarten, die zuweilen als Pflanzen- schädling (Maulwurfsgrille, Gewächshausschre- cke) oder als Lästling, Vorrats-, Material- und Gesundheitsschädling (Heimchen) von sich Re- den machen (STEINBRINK 1989, WEIDNER 1993). Aufgrund ihrer bioindikatorischen Bedeutung hat die Nutzung der Heuschrecken in Naturschutz und Landschaftsplanung einen immensen Auf- schwung genommen. Nicht zu unterschätzen ist auch die Wirkung der Heuschrecken auf die sinnliche Wahrnehmung der Landschaft. Geschichte des Projektes Eine Fauna und einen Verbreitungsatlas der Or- thopteren von Sachsen-Anhalt zu erarbeiten, war erst mit der nach kurzem Bestehen zwi- schen 1946 und 1952 erfolgten Wiedergründung dieses deutschen Bundeslandes im Jahr 1990 möglich. Dass es überhaupt gelungen ist, dieses Vorhaben anzugehen und nunmehr nach erst 14 Jahren ununterbrochener staatlicher Existenz des Landes abzuschließen, hat eine Reihe von Ursachen. Zuerst zu nennen sind die Erkenntnisse, die vor 1990 von Orthopterologen wie Ernst L. TA- SCHENBERG, Friedrich ZACHER, Wilhelm LEON- HARDT, Herbert WEIDNER, Friedrich KÜHLHORN sen., Friedrich KÜHLHORN jun. und Hans SCHIE- MENZ zusammengetragen wurden. Ein wichtiger Impuls für die Zusammenarbeit der Orthopterologen des Landes war die Abfassung der ersten Roten Liste der Heuschrecken Sach- sen-Anhalts, die im Jahr 1993 publiziert worden ist. Diese ehrenamtliche Arbeit fand von Anfang an und bis heute durch das Landesamt für Um- weltschutz Sachsen-Anhalt, insbesondere durch Herrn Dr. Peer H. SCHNITTER, Unterstützung. Wirtschaftliche und rechtliche Anforderungen führten in den letzten 15 Jahren zu einer Viel- zahl von Eingriffs- und Naturschutzplanungen, bei denen durch engagierte Biologen eine große Menge von Fundortangaben, insbesondere von Heuschrecken, ermittelt wurde. Zudem nahm sich die Forschung an Hochschu- len und Universitäten dieser Tiergruppe an. Her- vorzuheben ist der Lehrbereich Zoologie der e- hemaligen Pädagogischen Hochschule Halle- Köthen in Halle (Saale), in dem die zoogeogra- phisch-ökologische Forschung an Heuschrecken durch Herrn Prof. Dr. Franz TIETZE gefördert wurde. Schon bald war den im Land tätigen Orthoptero- logen klar, dass die Ohrwürmer und Schaben völlig vernachlässigt worden waren. So fanden diese Taxa seit ungefähr zehn Jahren zuneh- mend Beachtung. Überraschend war der Nach- weis einer Fangschreckenart auf dem Gebiet des Landes, so dass auch diese Orthopte- rengruppe integriert werden konnte. Der enorme Wissenszuwachs führte dazu, dass es bereits seit Mitte der 1990er Jahre kaum noch möglich war, einen vollständigen Überblick sämtlicher Daten zur Verbreitung aller Orthopte- renarten des Landes zu wahren. Schon 1996 entstand daher der Plan, eine Fauna mit Verbreitungsatlas der Geradflügler Sachsen- Anhalts abzufassen. Er fand mit Prof. Dr. Klaus RICHTER vom Fachbereich Landwirtschaft, Ö- kotrophologie und Landespflege der Hochschule Anhalt (FH) einen engagierten Befürworter und Antragsteller, mit dieser Hochschule einen Trä- ger und mit dem Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt einen Finanzier. So konnte im Zeitraum vom 01.06.2001 bis zum 31.05.2004 an der Hochschule Anhalt (FH) in Zusammenarbeit mit den sachsen-anhalter Or- thopterologen an dem landesfinanzierten Projekt „Zoogeographische und ökologische Untersu- chungen für eine Fauna der Heuschrecken, Ohrwürmer und Schaben (Insecta: Saltatoria, Dermaptera, Blattoptera) des Landes Sachsen- Anhalt“ (FKZ 3288A/0080R) gearbeitet werden. Ziele des Projektes Das Projekt hatte zum Ziel, die verfügbaren Verbreitungsdaten (Literatur, Sammlungen, Ar- tenlisten etc.) zu sammeln, zu sichern, zu prüfen und auszuwerten sowie in bisher schlecht zoo- geographisch und ökologisch bearbeiteten Landschaften Sachsen-Anhalts Kartierungen in für Geradflügler relevanten Biotoptypen durch- zuführen. Als Arbeitsmaterial sollte ein vorläufi- ger Verbreitungsatlas der Orthopteren des Lan- des Sachsen-Anhalt erstellt werden, der bereits neun Monate nach Projektbeginn publiziert wer- den konnte (WALLASCHEK et al. 2002). Des weiteren waren national und international bekannte zoogeographische und ökologische In- formationen über die Geradflügler Sachsen- Anhalts zusammenzustellen und zu parametri- sieren, um weiteren Forschungen im Land eine solide Vergleichsbasis zu schaffen. Dazu gehör- te auch die Erarbeitung der Arealdiagnosen der Arten und die Beschreibung des Faunenwandels im Laufe der Erdgeschichte als Grundlage für die Interpretation von Verbreitungsbildern und die Identifizierung von Ausbreitungs- und Refu- gialräumen. Wichtigstes Ziel war die dreidimensionale Dar- stellung der Verbreitung der Orthopteren im Land Sachsen-Anhalt in Texten und Karten. Es sollten auch synthetische Karten entstehen, so zur Verteilung der gesamten Artenvielfalt der Geradflügler im Land sowie zur Artenvielfalt ausgewählter zoogeographischer und ökologi- scher Artengruppen. Außerdem war der Versuch einer zoogeographischen Raumgliederung des Landes zu unternehmen. Alle Ergebnisse waren ökologisch zu interpretieren und zu begründen. Ein wesentliches Anliegen bildeten Schlussfol- gerungen für den Naturschutz und die Land- schaftsplanung, darunter die Überarbeitung und Neufassung der Roten Listen der Ohrwürmer, Schaben und Heuschrecken des Landes Sach- sen-Anhalt (WALLASCHEK 2004b, 2004c, 2004d), sowie die Bereitstellung von Angaben zur Verbreitung und Ökologie gesundheitlich und wirtschaftlich bedeutsamer Arten für die ent- sprechenden Bereiche (Gesundheits- und Vete- rinärwesen, Landwirtschaft, Gartenbau). Selbstverständlich sollten abgeschlossene Zwi- schenergebnisse publiziert werden, was auch über die bereits genannten Veröffentlichungen hinaus vielfach geschehen ist (vgl. Kap. 17). Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse des Pro- jektes im einzelnen vor. 13
Frank, D. & Schnitter, P. (Hrsg.): Pflanzen und Tiere in Sachsen-Anhalt Heuschrecken (Orthoptera) Bestandsentwicklung. Stand: Juni 2013 Michael Wallaschek (unter Mitarbeit von Björn Schäfer) Die Langfühlerschrecken (Ensifera) mit ca. 9.000 und die Kurzfühlerschrecken (Caelifera) mit ca. 11.000 Ar- ten wurden bis Mitte der 1990er Jahre als Unterordnun- gen der Heuschrecken (Saltatoria) aufgefasst, dann zu eigenständigen Ordnungen erhoben, um nun (erneut) als Unterordnungen der Heuschrecken (Orthoptera) zu gelten (vgl. Ingrisch & Köhler 1998, Köhler 2009). Fossilien von Ensiferen fanden sich bereits in Schich- ten des Oberkarbons, von Caeliferen erst in Ablagerungen der Unteren Trias. Für das Gebiet Sachsen-Anhalt liegen Grillen- und Dornschreckenreste aus den mitteleozä- nen Ablagerungen des Geiseltales sowie Laubheuschre- cken- und Grilleninklusen im oberoligozänen bis unter- miozänen Bitterfelder Bernstein vor. Heute sind 28 Ensiferen- und 34 Caeliferenspezies, also 62 Heuschreckenarten, aus Sachsen-Anhalt bekannt, wobei vier Kurzfühlerschreckenarten ausgestorben oder verschollen sind. Einzelne Arten wurden gelegentlich eingeschleppt, konnten sich aber nicht etablieren. Der Erstnachweis von Meconema meridionale in Sachsen- Anhalt erfolgte im Jahr 2008 (Gottfried & Kästner 2009). Maas et al. (2011) führen in ihrer Gesamtarten- liste für Deutschland 85 Heuschreckenarten (Ensifera: 40, Caelifera: 45). In terrestrischen Ökosystemen sind Heuschrecken meist als Primärkonsumenten, ein Teil auch als Sekun- därkonsumenten von Belang. Im Grasland können die Tiere mit den sprichwörtlichen Sprungbeinen und den teils lautstarken Zirpgesängen zu den dominanten Wir- bellosengruppen gehören. Die heimischen Heuschrecken sind als Indikatoren für den Naturschutz und die Landschaftsplanung von Bedeutung. So gehören in Lebensräumen des Anhangs I der FFH-Richtlinie bestimmte Heuschreckenarten zu den typischen Wirbellosen (z. B. Tetrix subulata auf Schlammbänken der Flüsse, Oedipoda caerulescens in Schwermetallrasen, Meconema thalassinum in Eichen- Hainbuchenwäldern; Wallaschek et al. 2004). Nach Maas et al. (2011) sind Deutschland und damit Sach- sen-Anhalt „in besonders hohem Maße verantwortlich“ für Isophya kraussii, „in hohem Maße verantwortlich“ für Barbitistes serricauda und Nemobius sylvestris sowie „in besonderem Maße für hochgradig isolierte Vorpos- ten verantwortlich“ für Gampsocleis glabra, Podisma pedestris und Stenobothrus crassipes. Aus dem Huy bei Halberstadt wurde eine neue Exklave von Stenobothrus crassipes bekannt (Schädler 2009), aus der Colbitz- Letzlinger Heide eine neue Exklave von Gampsocleis glabra (Schäfer in Wallaschek 2013). Heuschrecken eignen sich sehr gut zur Bewertung von Lebensräumen und Eingriffen. Dafür erlangen neben der Roten Liste und autökologischen Kenntnissen zunehmend zoogeo- graphische und zoozönologische Fakten an Gewicht, da mit ihnen die ökosystemaren, räumlichen und histo- rischen Bezüge besser berücksichtigt werden können. Nicht zu unterschätzen ist die Wirkung der Heuschre- cken auf die sinnliche Wahrnehmung der Landschaft. Die Europäische Wanderheuschrecke hat das Lan- desgebiet in Folge der Vernichtung ihrer südosteuropä- ischen Brutplätze schon lange nicht mehr heimgesucht. Dennoch gibt es indigene Heuschreckenarten, die zu- weilen als Pflanzenschädling (Gewächshausschrecke, Maulwurfsgrille) oder als Lästling, Vorrats-, Material- und Gesundheitsschädling (Heimchen) von sich Reden machen. Die Kenntnis der Heuschreckenfauna Sachsen-An- halts im Hinblick auf Zoogeographie, Ökologie, Ge- fährdung, Schutz und Bedeutung konnte in den letzten 20 Jahren erheblich verbessert werden, insbesondere durch das Projekt „Zoogeographische und ökologische Untersuchungen für eine Fauna der Heuschrecken, Ohrwürmer und Schaben des Landes Sachsen-Anhalt“ und nachfolgende Arbeiten zur Aktualisierung (Wal- laschek et al. 2004, 2013: 54120 Art-Fundort-Fundzeit- Datensätze). Im Ergebnis müssen noch immer Wissens- lücken zur Verbreitung indigener Heuschreckenarten in einigen Landschaften sowie zur Ökozoogeographie und Zoozönologie konstatiert werden. Insbesondere hin- sichtlich synanthroper Heuschrecken sind die Fachleute in Schädlingsbekämpfung, Land- und Forstwirtschaft, Kleine Goldschrecke (Euthystira brachyptera). Nordteil der Colbitz-Letzlinger Heide, 25.7.2006, Foto: B. Schäfer. 671 Gartenbau und Lagerwirtschaft aufgerufen, ihre ent- sprechenden Funde zu publizieren oder an die Ortho- pterologen des Landes weiterzugeben. Die Systematik und Nomenklatur richtet sich nach Coray & Lehmann (1998). An Synonymen sind sol- che in der Originalschreibweise angegeben, die für das Verständnis der älteren faunistischen Literatur Sachsen- Anhalts von Bedeutung sind. Ausführliche Listen von Synonyma finden sich in Zacher (1917) und Harz (1969, 1975). Die deutschen Namen folgen Detzel (1995). Die in Wallaschek et al. (2004) für Heuschre- cken errechneten Distributionsklassen waren zwar die Grundlage für die Einschätzung der Bestandssituation, doch wurden im vorliegenden Beitrag die neueren Er- kenntnisse zur Verbreitung (Wallaschek 2013) sowie die Kenntnisse zur ökologischen Zoogeographie derArten einbezogen. Daher weichen die Einstufungen nicht selten um ein bis zwei Klassen nach oben ab. Die Angaben zur Roten Liste der Heuschrecken Sachsen- Anhalts stammen aus Wallaschek (2004). Einige Heu- schreckenarten lebten oder leben in Sachsen-Anhalt aus- schließlich in Exklaven (X) vor der südlicher gelegenen Arealgrenze. Sämtliche Nachweise beruhen auf Walla- schek (2013), weshalb auf die entsprechende Spalte in der Tabelle verzichtet wurde. Blauflügelige Sandschrecke (Sphingonotus caerulans). Colbitz- Letzlinger Heide (Bauernheide), 19.8.2012, Foto: B. Schäfer.Westliche Beißschrecke (Platycleis albopunctata). Nordteil der Colbitz-Letzlinger Heide, 1.8.2008, Foto: B. Schäfer. Danksagung Den Herren R. Schweigert (Ditfurt) und M. Unruh (Großosida) sei herzlich für die kritische Durchsicht des Manuskripts und für Hinweise gedankt. Warzenbeißer (Decticus verrucivorus). Nordostteil der Colbitz-Letzlinger Heide, 16.8.2013, Foto: B. Schäfer. 672 Heuschrecken (Orthoptera) Literatur Coray, A. & Lehmann, A. W. (1998): Taxonomie der Heuschrecken Deutschlands (Orthoptera): Formale Aspekte der wissenschaftlichen Namen. – Articulata (Erlangen) Beih. 7: 63–152. Detzel, P. (1995): Zur Nomenklatur der Heuschrecken und Fangschrecken Deutschlands. – Articulata (Er- langen) 10 (1): 3–10. Gottfried, T. & Kästner, A. (2009): Erstnachweise der südlichen Eichenschrecke (Meconema meridionale [Costa, 1860]) in Sachsen und Sachsen-Anhalt. – Sächs. entomol. Zeitschr. (Leipzig) 4: 3–9. Harz, K. (1969): Die Orthopteren Europas I. (Unter- ord. Ensifera). – Ser. Entomol., Vol. 5, Junk, The Ha- gue, 749 S. Harz, K. (1975): Die Orthopteren Europas II. (Unterord. Caelifera). – Ser. Entomol., Vol. 11, Junk, The Hague, 939 S. Ingrisch, S. & Köhler, G. (1998): Die Heuschrecken Mitteleuropas. – NBB 629, Westarp Wissenschaften, Magdeburg, 460 S. Köhler, G. (2009): Checkliste der Heuschrecken (In- secta: Orthoptera) Thüringens. 4., aktualisierte und erweiterte Fassung: Stand November 2009. – In: Thü- ringer Entomologenverband e. V. (Hrsg.): Checklisten Thüringer Insekten und Spinnentiere. Teil 17: 11–21. Maas, S.; Detzel, P. & Staudt, A. (2011): Rote Liste und Gesamtartenliste der Heuschrecken (Saltatoria) Deutsch- lands. 2. Fassung, Stand Ende 2007. – Naturschutz Biol. Vielfalt (Bonn-Bad Godesberg) 70 (3): 577–606. Schädler, M. (2009): Ein neues Vorkommen des Zwerggrashüpfers, Stenobothrus crassipes (Charpen- tier, 1825) (Caelifera, Acrididae), in Deutschland. – Entomol. Nachr. Ber. (Dresden) 53 (3–4): 203–206. Wallaschek, M. (unter Mitarbeit von Müller, J.; Oe- lerich, H.-M.; Richter, K.; Schädler, M.; Schä- fer, B.; Schulze, M.; Schweigert, R.; Steglich, R.; Stolle, E. & Unruh, M.) (2004): Rote Liste der Heu- schrecken (Ensifera et Caelifera) des Landes Sach- sen-Anhalt (2. Fassung, Stand: Februar 2004). – Ber. Landesamt. Umweltschutz Sachsen-Anhalt (Halle) 39: 223–227. Wallaschek, M. (unter Mitarbeit von Elias, D; Klaus, D; Müller, J.; Schädler, M.; Schäfer, B; Schulze, M.; Steglich, R. & Unruh, M.) (2013): Die Gerad- flügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Derma- ptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caelifera): Aktualisierung der Verbreitungskarten. – Entomol. Mitt. Sachsen-Anhalt (Schönebeck) SH 2013: 1–100. Wallaschek, M.; Langner, T. J. & Richter, K. (unter Mitarbeit von Federschmidt, A.; Klaus, D.; Miel- ke, U.; Müller, J.; Oelerich, H.-M.; Ohst, J.; Osch- mann, M.; Schädler, M.; Schäfer, B.; Scharapen- ko, R.; Schüler, W.; Schulze M.; Schweigert, R.; Steglich, R.; Stolle, E. & Unruh, M.) (2004): Die Geradflügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Dermaptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caeli- fera). – Ber. Landesamt. Umweltschutz Sachsen-An- halt (Halle) SH 5/2004: 1–290. Zacher, F. (1917): Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. – Fischer, Jena, 287 S. Anschriften der Verfasser Björn Schäfer IHU Geologie und Analytik Dr.-Kurt-Schumacher-Straße. 23 39576 Stendal E-Mail: schaefer@IHU-Stendal.de Dr. Michael Wallaschek Agnes-Gosche-Straße 43 06120 Halle (Saale) Tab. 31.1: Bestandsentwicklung der Heuschrecken in Sachsen-Anhalt Zusätzliche Abkürzungen: Rote Liste (RL) Bezug auf Wallaschek (2004) Bemerkungen (Bm) X ausschließlich in Exklaven vorkommend Art Ensifera (Langfühlerschrecken) Acheta domesticus (L., 1758) Barbitistes constrictus Brunner von Wattenwyl, 1878 Barbitistes serricauda (F., 1798) BR BS BE H UV SM mh0ss03.2.4.12.2.5 ss03.2.92.2 RL Ges. Bm Synonym, Deutscher Name A 3 A Gryllulus domesticus L., 1758; Heimchen Nadelholz-Säbelschrecke Odontura serricauda Fischer, 1853; Laubholz-Säbelschrecke 673
12 Zur Zoogeographie der Orthopteren in Sachsen-Anhalt M. WALLASCHEK 12.1 Struktur der Orthopterenfauna Tab. 6 zeigt die Artenzahlen und Anteile der hö- heren Taxa Sachsen-Anhalts in Bezug auf Deutschland. Da auch eingeschleppte Arten mit kurzer Verweildauer Berücksichtigung fanden, sind diese Zahlen mit der Unsicherheit behaftet, dass solche in der Literatur genannten Arten übersehen worden sein können. Bisher sind knapp zwei Drittel der in Deutsch- land nachgewiesenen Orthopterenarten auch im Land Sachsen-Anhalt gefunden worden. Die Caelifera und Ensifera dominieren in beiden Gebieten, wobei erstere besser in Sachsen- Anhalt vertreten sind als letztere. Die artenreichsten Orthopterenfamilien stellen in Deutschland und Sachsen-Anhalt die Tettigonii- dae und die Acrididae dar. Jeweils sieben der 15 bzw. 14 Geradflüglerfamilien kommen nur mit ein oder zwei Arten vor. Betrachtet man die ar- tenreicheren Familien, so sind die Tetrigidae, Acrididae und Tettigoniidae verhältnismäßig gut in Sachsen-Anhalt vertreten. Relativ schlecht sind die frei lebenden Ectobiidae im Land reprä- sentiert. Hier stellt sich die Frage, ob nicht ein- zelne Arten bisher übersehen worden sind. Vor allem bei den Blattopteren weist die große Zahl nur kurzzeitig in Deutschland eingeschlepp- ter Arten auf eine momentan hohe Faunendy- namik hin. Tab. 6: Die Orthopterenzahlen Deutschlands und Sachsen-Anhalts. Artenzahlen Deutschlands nach BOHN (1989, 2003), HARZ (1957), MAAS et al. (2002), MATZKE (2001), POSPISCHIL (2004), WEIDNER (1993), ZACHER (1917); genannt wird jeweils die Gesamtartenzahl inkl. der Arten, die im Gebiet bisher nur kurzzeitig oder gar nicht reproduziert haben, in Klammern deren Artenzahl. Systematische Einheit Dermaptera Carcinophoridae Labiidae Labiduridae Forficulidae Mantodea Mantidae Blattoptera Blaberidae Blattidae Blattellidae Ectobiidae Ensifera Tettigoniidae Raphidophoridae Gryllidae Gryllotalpidae Caelifera Tetrigidae Acrididae Artenzahl gesamt Artenzahl Deuschland 9 1 (1) 2 (1) 1 5 1 1 ca. 23 ca. 10 (10) ca. 5 (2) 2 7 42 27 (1) 2 11 (3) 1 45 6 39 (1) 120 Die in Sachsen-Anhalt niedrigere Zahl nur kurz- zeitig eingeschleppter Schabenarten folgt wohl aus der Lage im Binnenland. Tab. A7 zeigt u.a. die Struktur einiger zoogeographischer Arten- gruppen Sachsen-Anhalts. Danach ist die Or- thopterenfauna Sachsen-Anhalts fast vollständig eine arboreale im Sinne von DE LATTIN (1967). Nur eine Ohrwurm- und eine Langfühlerschre- ckenart sowie zwei Kurzfühlerschreckenarten gehören dem Eremial an. Oreotundrale Arten fehlen. Bei den Dermapteren, den Mantodeen und besonders den Blattopteren überwiegen kosmopolitische/eingeschleppte Faunenelemente. Die Ensiferenfauna Sachsen-Anhalts wird von mediterranen und kaspischen Faunenelementen Artenzahl Sachsen-Anhalt 5 0 1 1 3 1 1 (1) 10 2 (2) 3 2 (1) 3 27 19 1 6 (2) 1 34 5 29 (2) 77 Anteil in Sachsen-Anhalt (%) 56 0 50 100 60 100 100 43 20 60 100 43 64 70 50 55 100 76 83 74 64 dominiert. In der Caeliferenfauna treten diese beiden Gruppen selbst gemeinsam deutlich hin- ter die sibirischen Faunenelementen zurück. Rund drei Viertel aller Orthopterenarten Sach- sen-Anhalts sind Idiochorozoen. Zwei solcher Arten sind in der zweiten Hälfte des 19. Jahr- hunderts im Land ausgestorben (Calliptamus ita- licus, Locusta migratoria), eine in der ersten (Gomphocerus sibiricus) und eine in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Podisma pe- destris). Bereits mit den ersten Viehhaltern und Acker- bauern könnten die Archaeozoen Labia minor und Blatta orientalis im Landesgebiet aufge- 195 taucht sein; Acheta domesticus kam wohl erst in der römischen und der Völkerwanderungszeit. Neozoen finden sich vor allem unter den Blat- topteren, wobei noch nicht ganz klar ist, ob sich Supella longipalpa im Land etabliert hat. Tachy- cines asynamorus ist die einzige neozoische Ensifere des Landes. Vorübergehend traten im Land bisher außer bei den Dermapteren in allen Ordnungen ein bis zwei Arten auf; die Mantodeen sind überhaupt nur durch ein Ephemerozoon im Land vertreten. Als Irrgast (Alienozoon) ist Oecanthus pellucens zu betrachten. Von den 70 Orthopterenarten, die zwischen dem 01.01.1990 und dem 31.08.2004 mit Nachwei- sen auf dem Landesgebiet vertreten waren, sind 47 nur sehr wenig verbreitet. Lediglich elf Arten sind in Sachsen-Anhalt weit oder sehr weit ver- breitet. Unter Berücksichtigung der in Kap. 5.1 genannten methodischen Einschränkungen ent- spricht der auf Metrioptera roeselii bezogene Distributionsgrad zumindest für Offenlandarten gut der Geländeerfahrung. 38 % der Orthopterenarten Sachsen-Anhalts konnten bisher in der planaren und kollinen Stu- fe nachgewiesen werden. Weitere 16 % sind bis in die submontane und noch einmal 21 % bis in die montane Stufe vertreten. Lediglich sieben Arten, davon sechs Caelifera und nur eine Ensi- fera, konnten bisher im hochmontanen und sub- alpinen Bereich gefunden werden. Einige weite- re Arten sind in Sachsen-Anhalt auf bestimmte Stufen beschränkt. Da die meisten Arten in den europäischen Gebirgen in weit größeren Höhen angetroffen worden sind als sie der sachsen- anhalter Harz zu bieten hat (vgl. Tab. A3), ist dies wohl ein deutliches Zeichen für die klimati- schen Extreme im Bereich des Brockenmassivs (Kap. 6.3.4). Allerdings ist das Spektrum an Of- fenlandbiotopen in diesem Gebiet ebenfalls rela- tiv schmal. Hinsichtlich der Bindung an die Höhenstufen herrschen in Sachsen-Anhalt oligostenozone Ar- ten vor, gefolgt von den oligo-meso-stenozonen Arten, d.h. das Gros der Arten ist eng an untere und mittlere Höhenstufen gebunden. Podisma pedestris war auf mittlere Höhenstufen be- schränkt. Omocestus viridulus bevorzugt sie, tritt aber auch in allen anderen auf. Sechs Arten ha- ben ihren Schwerpunkt in unteren Höhenstufen, kommen jedoch gleichfalls in allen anderen vor. Immerhin 21 Orthopterenarten erreichen ihre nördliche Arealgrenze in der subtemperaten Zo- ne. Bei zehn Arten markieren ihre Bestände im Land eine geschlossene Nordgrenze. Vier Arten kommen hier am nördlichen Arealrand vor, drei Arten leben in Exklaven. Bei einer verläuft ihre nördliche Arealgrenze im Süden des Landes; sie lebt zugleich in Exklaven vor ihr. Eine hat die Arealgrenze im Süden und Westen des Landes, wobei sie hier in disjunkten Beständen existiert. Eine Art lebt am Arealrand in disjunkten Vor- 196 kommen. Bei einer weiteren Art verläuft die ge- schlossene Arealnordgrenze an der Ostseeküs- te, also außerhalb des Landesgebietes. Unter den temperaten Arten sind eine mit Areal- grenze, zwei am Arealrand und drei in erlosche- nen Exklaven in Sachsen-Anhalt. Eine boreale Art hat ihre Arealgrenze im Süden und Westen Sachsen-Anhalts und besitzt im mittleren Lan- desgebiet Exklaven. Eine weitere befindet sich am nördlichen Arealrand und eine Art besaß ei- ne erloschene Exklave im Land. Die Bestände einer arktischen Art liegen am nordwestlichen Rand des Areals. Eine weitere solche verfügte über eine Exklave. In Europa bis in die submeri- dionale Zone verbreitete Arten werden entweder nach Sachsen-Anhalt eingeschleppt (zwei Arten) oder verfügen über eine weit vorgeschobene Exklave. Drei kosmopolitische Arten besitzen oder besaßen in Sachsen-Anhalt Exklaven; eine weitere kosmopolitische Art kommt hier am Nordrand des europäischen Arealteils vor. Eine wird gelegentlich aus Südamerika einge- schleppt. Somit befinden sich von den 77 sachsen- anhalter Orthopterenarten 39, also die Hälfte, im Land in Arealgrenz- oder randlage bzw. in Ex- klaven. Davon stellen die subtemperaten Arten allein die Hälfte (20), gefolgt von den tempera- ten mit sechs, den kosmopolitischen/ südameri- kanischen mit fünf, den borealen und den sub- meridionalen mit je drei sowie den arktischen mit zwei. Von den Blattopteren Sachsen-Anhalts befinden sich 30 % im Land in Exklaven. 34 % der Ensife- ren leben hier an der Arealgrenze, hingegen nur 12 % der Caeliferen. Diese stellen aber viele Ar- ten, die in Sachsen-Anhalt am Arealrand oder in Exklaven existieren. Ein Teil dieser Exklaven ist erloschen, womit auch die betreffenden Arten ausgestorben sind (Calliptamus italicus, Podis- ma pedestris, Locusta migratoria, Gomphocerus sibiricus). Nur knapp die Hälfte der Orthopterenarten Sachsen-Anhalts zeigt eine stationäre Arealdy- namik. Immerhin zehn Arten sind ausgespro- chen expansiv, wobei es sich vor allem um eini- ge Ensiferenarten und mehrere synanthrope Blattopterenarten handelt. Zwar weisen auch einzelne Dermapteren- und Blattopterenarten sowie drei Ensiferenarten regressive Tendenzen auf, doch fallen hauptsächlich Caeliferenarten durch einen Rückgang ihrer Bestände auf. Im Landesgebiet erloschen sind ausschließlich Kurzfühlerschreckenarten. Die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen zur Vagilität von Orthopterenarten in Sachsen- Anhalt sind in Tab. A6 zusammengefasst. Es wird sichtbar, dass die Vagilität der Arten in den Naturräumen teils erheblich differiert und dass die Vagilitäts-Artengruppen naturraumspezifisch sind. Viele Arten erweisen sich in den meisten Naturräumen als wenig vagil. Deutlich weniger Arten sind in den meisten Naturräumen hoch vagil bzw. mäßig vagil. Eine hohe Zahl wenig vagiler Arten ist oft in Naturräumen mit relativ geringer Landnutzungsintensität zu beobachten. 12.2 Artenreichtum Mit mehr als 30 Heuschreckenarten erweisen sich folgende Gebiete in Sachsen-Anhalt als be- sonders artenreich (Abb. A1): •das Land Schollene, •die nördliche und südöstliche Letzlinger Heide und angrenzende Bereiche der Trüstedter Hochfläche bzw. der Elbtalniede- rung, •die harznahen Bereiche des westlichen Nordöstlichen Harzvorlandes und des östli- chen Teils der Harzrandmulde, •das Elbe-Mulde-Tiefland bei Dessau, Wit- tenberg und Bitterfeld, •der Südharzer Zechsteingürtel zwischen Berga und Stolberg, •die Hallesche Kuppenlandschaft und die Stadt Halle im Östlichen Harzvorland, • das Saale-Unstrut-Gebiet um Freyburg und Naumburg zwischen der Landesgrenze zu Thüringen und Weißenfels. Mit 40 Species ist das Meßtischblatt 4736 zwi- schen Freyburg und Karsdorf an der Unstrut das an Heuschreckenarten reichste Gebiet in Sach- sen-Anhalt. Arm an Heuschrecken zeigen sich vor allem die an den Grenzen des Landes gelegenen ange- schnittenen Meßtischblätter. Ursachen sind in der teils mangelnden faunistischen Durchfor- schung, in der Knappheit von Offenlandbiotopen (z.B. Perleberger Heide) und in der geringen Fläche zu suchen. Es existieren vollständig im Land liegende Meß- tischblätter, in denen weniger als 15 Heuschre- ckenarten nachgewiesen werden konnten. Dazu gehören Teile der Jeetze-Dumme-Lehmplatte und Arendseer Platte, der Westlichen Fläming- hochfläche, des Zerbster Landes, des Nördli- chen Harzvorlandes und des Mitteldeutschen Schwarzerdegebietes. In diesen durch intensi- ven Ackerbau, intensive Grünlandwirtschaft oder ausgedehnte Forste geprägten Landschaften finden sich über weite Strecken nur wenige weit oder sehr weit verbreitete Arten. Dennoch be- stehen auch hier fast überall Reste naturnaher Offenländer, die anspruchsvolleren Species Le- bensstätten bieten. Größere an Heuschrecken- arten arme Räume sind daher in Sachsen- Anhalt relativ selten. Im Norden der Altmark häufen sich Meß- tischblätter, die relativ niedrige Heuschreckenar- tenzahlen aufweisen. Hierin dürfte sich neben Kartierungsmängeln und Nutzungseinflüssen das für ganz Deutschland gültige Süd/Südost- Nord/Nordwest-Gefälle der Artenzahl widerspie- geln (WALLASCHEK 1996a). Die Funde von Ohrwurmarten häufen sich be- sonders in den traditionell und in den während der Projektlaufzeit intensiver untersuchten Räu- men des Landes, also in der Umgebung von Halle, im Landessüden zwischen Freyburg, Naumburg, Zeitz und Weißenfels, im Elbe- Mulde-Tiefland, im Fläming, in der Elbtalniede- rung und der Altmark. Bei Apterygida media dürften der Häufung der Fundorte im Landessü- den jedoch nicht nur erfassungsmethodische, sondern zoogeographisch-ökologische Fakto- ren, insbesondere die Verfügbarkeit geeigneter Lebensräume und thermische Ansprüche, zugrunde liegen. Labidura riparia konzentriert sich in den Braunkohle-Bergbaugebieten; die Fundortverteilung ist also ebenfalls nicht allein methodisch bedingt. Da die meisten Nachweise freilebender Scha- benarten auf Beifänge von Bodenfallen zurück- gehen, zeigt die Verteilung der Fundorte vor al- lem die Lokalitäten entsprechender Untersu- chungen an. Weil die Funde synanthroper Schabenarten auf Zufällen oder Zuarbeiten von Schädlingsbekäpfungsbetrieben beruhen, wei- sen Häufungen von Nachweisen auf die Wohn- orte von interessierten Entomologen oder Hy- gienikern bzw. die Arbeitsgebiete entsprechen- der Firmen hin. In die Analyse der Verbreitung subtemperater Arten in Sachsen-Anhalt gingen folgende 20 Or- thopterenspecies (Blattoptera: 1, Ensifera: 11, Caelifera: 8) ein: Barbitistes serricauda, B. constrictus, Chorthippus mollis, Chorthippus va- gans, Conocephalus fuscus, Gampsocleis glabra, Gryllus campestris, Isophya kraussii, Leptophyes albovittata, Metrioptera bicolor, Myrmecophilus acervorum, Nemobius sylvestris, Oedipoda caerulescens, Oedipoda germanica, Omocestus haemorrhoidalis, Phyllodromica ma- culata, Stenobothrus nigromaculatus, Steno- bothrus stigmaticus, Tetrix ceperoi und Tettigo- nia caudata. Neun und mehr solcher relativ wärmebedürftiger Arten finden sich in folgenden Räumen des Landes Sachsen-Anhalt (Abb. A2): •Land Schollene, •südöstliche Letzlinger Heide und angren- zende Bereiche der Elbtalniederung, •harznahe Bereiche des östlichen Teils der Harzrandmulde und des westlichen Nordöstlichen Harzvorlandes, •Elbe-Mulde-Tiefland bei Bitterfeld, •Gebiet der Mansfelder Seen und Hallesche Kuppenlandschaft im Östlichen Harzvorland, •Saale-Unstrut-Gebiet um Nebra, Freyburg und Naumburg. 197
16 Forschungsbedarf M. WALLASCHEK 16.1 Zoogeographie In paläoorthopterologischer Hinsicht wäre es wünschenswert, wenn die schon mehrere Jahr- zehnte alten Orthopterenfossilien aus dem Gei- seltal einer Neubearbeitung zugeführt werden könnten, die den Fortschritt von Taxonomie und Systematik hinreichend berücksichtigt. Zudem wäre die weitere Untersuchung der Orthoptere- ninklusen im Bitterfelder Bernstein willkommen. Trotz des unverkennbaren rezenten faunistisch- chorologischen Kenntniszuwachses über die Or- thopterentaxa Sachsen-Anhalts muss konstatiert werden, dass einige Landschaften nur erst im Überblick bekannt sind. Dazu gehören die Alt- mark, das Ostbraunschweigische Flachland, das Nordharzvorland, der Harz, das Nordöstliche Harzvorland und die Magdeburger Börde, das Genthiner Land sowie die Dübener Heide und die Annaburger Heide. Aber selbst in den relativ gut bearbeiteten Natur- räumen finden sich Gebiete, die noch unzurei- chend untersucht sind. Meist handelt es sich um für Heuschreckenkundige, auf deren Schultern ja die Beschäftigung mit den Orthopterentaxa des Landes weitgehend ruht, wenig attraktiv er- scheinende Acker- und Waldlandschaften. Urbane Landschaften sind zwar in Sachsen- Anhalt gut im Hinblick auf die Orthopterenfauna naturnaher Räume hin untersucht, doch mangelt es trotz aller Fortschritte deutlich an der Erfas- sung synanthroper Arten. Auch den nichtsy- nanthropen ins Land verdrifteten oder ver- schleppten Orthopterenspecies sollte Aufmerk- samkeit zuteil werden, könnten sich doch hieran Entwicklungen in der Landesfauna sehr zeitig erkennen und kausal bearbeiten lassen. Die Ohrwürmer und Schaben sind insgesamt deutlich schlechter untersucht als die Lang- und Kurzfühlerschrecken. Das liegt zum einen daran, dass sie mit dem bei der Heuschreckenerfas- sung üblichen Keschern und Steinewenden nur in begrenztem Maße zu erlangen sind und der Zugang zu Fallenmaterial aus verschiedenen Gründen limitiert ist, also noch weitere Erfas- sungsmethoden angewendet werden müssen, zum anderen an der Bindung vieler dieser Arten an den relativ selten von Heuschreckenkundlern aufgesuchten Wald. Aufgrund des begrenzten Zeit- und Arbeitskräf- terahmens ist es nur im Saale-Unstrut-Raum, bei Halle, Dessau, Magdeburg und im Ostbraunschweigischen Flachland gelungen, die meisten Altfundorte aufzusuchen und die dama- ligen Befunde nachzuprüfen. Der zu Projektbe- ginn im Vergleich zu anderen Landschaften rela- tiv gut untersuchte Harz mit seiner Vielzahl von Altangaben musste zugunsten bis dato gar nicht bearbeiteter Räume vernachlässigt werden. Die zoogeographische Raumgliederung des Landes bedarf der Überprüfung und Ergänzung. Wegen des bei weitem nicht vollständigen zoo- zönologischen Kenntnisstandes fehlen noch aus vielen Naturräumen Sachsen-Anhalts verlässli- che Angaben zur Vagilität der Orthopterenarten. 16.2 Ökologie Da eine Reihe von Landschaften Sachsen- Anhalt noch nicht in befriedigender Weise zoo- geographisch und zoozönologisch untersucht worden sind, dürften hinsichtlich der Biotopbin- dung vieler Orthopterenarten noch neue Er- kenntnisse zu gewinnen sein. In autökologischer und bionomischer Hinsicht erscheint es interessant, der Phänologie aller Arten mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Für ter- ricole Species bietet sich Fallenmaterial in be- sonderer Weise an, sofern die Fallen mindes- tens eine volle Vegetationsperiode einschließlich des Winters fängig gehalten worden sind. In keiner einzigen Landschaft Sachsen-Anhalts sind die Orthopterenzönosen aller relevanten Biotop- und Nutzungstypen untersucht worden. Selbst in den am besten zoozönologisch bear- beiteten Naturräumen fehlen meist die Arten- bündel von Äckern, Gärten, Obstkulturen und den verschiedenen Gebäudetypen. Nicht hinrei- chend bearbeitet sind generell auch Wälder, Hecken, Gebüsche und Feldgehölze. 16.3 Naturschutz An den Altfundorten bzw. in den Ansprüchen entsprechenden Lebensräumen der in Sachsen- Anhalt „ausgestorbenen oder verschollenen“ Heuschreckenarten Calliptamus italicus, Gomphocerus sibiricus, Locusta migratoria und Podisma pedestris sollte wiederholt und intensiv nachgesucht werden. Angesichts der lange aus- einander liegenden Funddaten von Gomphoce- rus sibiricus und Podisma pedestris kann immer noch auf Funde im Harz, bei der letzteren Art auch auf Truppenübungsplätzen gehofft werden. Genauso sind Wiedereinflüge von Locusta migratoria und das Wiedererscheinen von Cal- liptamus italicus im Saale-Unstrut-Raum oder in 253 den Sandgebieten des Landes nicht auszu- schließen. Bei Wiederfunden sind, mit Ausnah- me von Locusta migratoria, die Lebensraumflä- chen zu sichern und Untersuchungen zum Sta- tus der Populationen sowie zu geeigneten Schutzmaßnahmen einzuleiten. Für die in Sachsen-Anhalt „vom Aussterben be- drohten“, „stark gefährdeten“ und „extrem selte- nen“ Orthopterenarten Chorthippus vagans, Decticus verrucivorus, Gampsocleis glabra, La- bidura riparia, Oedipoda germanica, Psophus stridulus, Sphingonotus caerulans, Stenobothrus crassipes, S. nigromaculatus und S. stigmaticus sollten Artenhilfsprogramme erarbeitet werden. Da Sachsen-Anhalt eine besondere Verantwor- tung für die Erhaltung des Vorpostens von Gampsocleis glabra trägt, muss diese Art im Vordergrund der Bemühungen stehen. Unerlässlich ist die umgehende Nachsuche an allen Altfundorten von Psophus stridulus. Drin- gender Untersuchungsbedarf hinsichtlich der zoogeographischen und ökologischen Grundla- gendaten der Bestände in Sachsen-Anhalt be- steht bei Oedipoda germanica. In den nächsten Jahre sollten solche Untersuchungen auch für Stenobothrus nigromaculatus und S. crassipes veranlasst werden. Viele der Fundorte von Chorthippus vagans, Decticus verrucivorus, Labidura riparia und Ste- nobothrus stigmaticus bedürfen neben ihrer na- turschutzrechtlichen Sicherung der extensiven Nutzung oder Pflege. Dazu sind allerdings auf den Einzelfall ausgerichtete Untersuchungen er- forderlich. Solche Untersuchungen erfordern auch Labidu- ra riparia und Sphingonotus caerulans, die im nächsten Jahrzehnt im Süden des Landes durch den Rückgang des Braunkohlenbergbaus sowie durch Rekultivierung und Sukzession, in der Mit- te und im Norden des Landes durch die Sukzes- sion der Offenflächen auf Truppenübungsplät- zen viele Lebensräume verlieren werden. Oedipoda caerulescens ist die am wenigsten im Bestand bedrohte „besonders geschützte“ Or- thopterenart Sachsen-Anhalts. Sie unterliegt je- doch prinzipiell denselben Gefährdungen wie die beiden vorgenannten Arten. Ihre Bestände ver- dienen daher Beachtung bei allen Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftsplanung, insbesondere bezüglich der Eingriffsplanung. Auch wenn die Bestände von Isophya kraussii, Barbitistes serricauda und Nemobius sylvestris als Arten, für die Deutschland „in besonderem Maße“ bzw. „stark“ verantwortlich ist, in Sach- sen-Anhalt an der Arealgrenze liegen, sollte sie 254 der Naturschutz im Land bei seinen Bemühun- gen besonders beachten. Beispielsweise wäre es sinnvoll, die Exklaven von Nemobius syl- vestris im Fläming naturschutzrechtlich zu si- chern, zumal damit gleichzeitig Bestände hier nicht häufiger alter Laubwälder geschützt wer- den würden. Allerdings bestehen zur Verbrei- tung und Ökologie aller drei Arten noch erhebli- che Kenntnislücken, die durch entsprechende Arbeiten geschlossen werden sollten. „Stark verantwortlich“ ist Sachsen-Anhalt auch für die Bestände von Chelidurella guentheri, wo- bei weniger über die Ökologie als über die Verbreitung im Land nur unzulängliche Kennt- nisse bestehen. Hier ergibt sich Kartierungsbe- darf. Im Landessüden sollte beachtet werden, dass die Etablierung von Mantis religiosa im Gefolge von Verdriftung oder Verschleppung nicht aus- geschlossen werden kann. Beim Erscheinen der Art sollten Untersuchungen zum Status der Po- pulation anlaufen und die Lebensräume sofort naturschutzrechtlich gesichert werden. Die natürlichen Zielartensysteme sollten weiter qualifiziert werden. 16.4 Wirtschaft und Gesundheit Der Erfolg der Zusammenarbeit zwischen Ento- mologen mit zoogeographisch-ökologischer und medizinisch-hygienischer Ausrichtung in diesem Projekt sollte Anlass sein, in Zukunft noch stär- ker, als das in diesem Projekt mittels Umfragen und persönlicher Kontakte geschehen konnte, auf den Kreis der in Land- und Forstwirtschaft, Gartenbau, Lagerwirtschaft und Schädlingsbe- kämpfung tätigen Fachleute zuzugehen. Einerseits ist daraus die Verbesserung des fau- nistisch-chorologischen und ökologischen Kenntnisstandes über die Orthopterenarten der Kultur- und Anthropozönosen Sachsen-Anhalts, andererseits eine Erweiterung des Wissens über deren konkrete wirtschaftliche und gesundheitli- che Nutz- oder Schadwirkungen auf dem Lan- desgebiet zu erwarten. Das dürfte wesentlich zur Qualifizierung der Nutzens- oder Schadens- potenziale der Geradflügler des Landes beitra- gen. Darüber hinaus sollten Möglichkeiten gesucht werden, das Wissen über die wirtschaftlich und gesundheitlich bedeutsamen Orthopterenarten Sachsen-Anhalts durch gezielte Kartierungen zu verbessern.
Die Geradflügler des Landes Sachsen-Anhalt (Insecta: Dermaptera, Mantodea, Blattoptera, Ensifera, Caelifera) Michael WALLASCHEK, Thomas J. LANGNER & Klaus RICHTER Unter Mitarbeit von Andreas FEDERSCHMIDT, Dietmar KLAUS, Ulrich MIELKE, Joachim MÜLLER, Hans- Markus OELERICH, Jürgen OHST, Martin OSCHMANN, Martin SCHÄDLER, Björn SCHÄFER, Ralf SCHARA- PENKO, Wolfgang SCHÜLER, Martin SCHULZE, Roland SCHWEIGERT, Rosmarie STEGLICH, Eckhart STOL- LE und Michael UNRUH 1 Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit präsentiert die Ergebnisse des Projektes „Zoogeographische und ökologische Untersuchungen für eine Fauna der Heuschrecken, Ohrwürmer und Schaben (Insecta: Saltatoria, Dermaptera, Blattoptera) des Landes Sachsen-Anhalt“ (FKZ 3288A/0080R). Es lief von 2001 bis 2004 an der Hochschule Anhalt (FH) in Zusammenarbeit mit den Orthopterologen des Landes. Ziel des Projektes war die Ermittlung und Darstellung der Zoogeographie, Ökologie, Gefährdung und Bedeutung der Geradflügler (Orthoptera s.l.) im Land Sachsen-Anhalt. Wesentliche Mittel dazu waren die Auswertung der Literatur, von Sammlungen und Aufzeichnungen sowie die Kartierung in bisher wenig bearbeiteten Landschaften. Insgesamt konnten 77 Geradflüglerarten nachgewiesen werden, davon fünf Ohrwurm-, eine Fang- schrecken-, zehn Schaben-, 27 Langfühlerschrecken- und 34 Kurzfühlerschreckenarten. Zum 31.08.2004 umfasst die Datenbank des Projektes 35.950 Datensätze von Orthopteren. Für die Taxa lauten die Zahlen: Dermaptera 943, Mantodea 1, Blattoptera 426, Ensifera 12959, Caelifera 21621. Die Spezies-Kapitel enthalten textliche und kartographische Aussagen zur aktuellen Verbreitung, zur Ökologie und Gefährdung sowie zum Schutz der Orthopterenarten Sachsen-Anhalts. Wesentliche synthetische Aspekte des Werkes sind die Beschreibung des Faunenwandels vom Palä- ozoikum bis zur Gegenwart, der Verteilung der Artenzahl ausgewählter systematischer, zoogeogra- phischer und ökologischer Gruppen in Texten und mit sechs Gitterfeldkarten, von Refugial- und Aus- breitungsräumen, der orthopterozoogeographischen Gliederung des Landes und der Geradflüglerzö- nosen Sachsen-Anhalts. Den angewandten Disziplinen dienen Kapitel zur Bedeutung der Geradflügler im Naturschutz, in der Wirtschaft und im Gesundheitswesen. Abschließend wurde der verbliebene Forschungsbedarf darge- stellt. 2 Abstract The reference work presents the results of project „Zoogegraphical and ecological studies on fauna of grasshoppers, earworms and cockroaches (Insecta: Saltatoria, Dermaptera, Blattoptera) in Land Sa- xony-Anhalt“ (FKZ 3288A/0080R) during the years 2001 to 2004 on the Hochschule Anhalt (FH) in co- operation with voluntary orthopterologists. The aim of the project was to discover and describe the zoogeography, ecology, vulnerability, and sig- nificance of Orthoptera (s.l.) in Saxony-Anhalt. Fundamental methods were utilization of literature, col- lections and records as well as registration of Orthoptera in some landscapes. A total of 77 Orthoptera s.l. – 5 Dermatera, 1 Mantodea, 10 Blattoptera, 27 Ensifera, 34 Caelifera – have so far been found. The data base of project is managed by the authors. By the dead line of 31.08.2004, altogether 35.950 entries of Orthoptera s.l. have been included (Dermaptera 943, Manto- dea 1, Blattoptera 426, Ensifera 12959, Caelifera 21621). The species chapters contain a situational text and a distribution map. Current distribution, habitats, vulnerability, and protection of the species are described. Fundamental synthetic apects of study are faunal history, dispersion of species richness on system- atic, zoogeographic and ecologic groupings, dispersal routes and refuges, orthopterologic regional structures, and characteristic groupings of species. Applied aspects are the importance of Orthoptera s.l. on nature conservation, economy, and health service. The research requirement was described. 7
Origin | Count |
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Bund | 73 |
Land | 12 |
Type | Count |
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Förderprogramm | 73 |
unbekannt | 12 |
License | Count |
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geschlossen | 12 |
offen | 73 |
Language | Count |
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Deutsch | 85 |
Englisch | 14 |
Resource type | Count |
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Dokument | 1 |
Keine | 64 |
Webseite | 20 |
Topic | Count |
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Boden | 85 |
Lebewesen & Lebensräume | 84 |
Luft | 12 |
Mensch & Umwelt | 85 |
Wasser | 35 |
Weitere | 85 |