Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 122/03
Staatskanzlei - Pressemitteilung
Nr.: 122/03
Magdeburg, den 13. März 2003
Regierungserklärung von Ministerpräsident
Prof. Dr. Wolfgang Böhmer
¿Reformen braucht das Land¿
Es gilt das gesprochene Wort!
(Anrede)
Wir wissen uns einig in dem Ziel, den
Menschen in unserem Land wieder eine Perspektive zu geben. Dies ist auch das
erste und wichtigste Ziel der Landesregierung. Dazu gehört, alles zu tun um im
eigenen Land Arbeitsplätze zu schaffen. Wir wollen, dass jeder in
Eigenverantwortung über sein Schicksal bestimmen soll und wissen, dass dies nur
dann geht, wenn er sich durch eigene Arbeit die materiellen Grundlagen dazu
selbst erarbeiten kann.
Dabei waren wir bisher weniger erfolgreich
als wir es erhofft hatten. Wer Arbeitsplätze schaffen will muss Arbeitgeber
ansiedeln, Investitionen rechtlich begünstigen und für die vorhandenen
Arbeitgeber für Arbeit und für Umsatz sorgen. Diesem Ziel haben wir viele
andere nachgeordnet, dafür sind wir auch kritisiert worden. Diese Entwicklung
hat kleine Erfolge gebracht, aber noch keine bessere Bilanz der Arbeitsplätze.
Noch schwimmen wir gegen einen Strom, der stärker ist als wir.
Sachsen-Anhalt ist kein abgeschlossenes
Wirtschaftsgebiet. Wir sind ein kleiner Teil des Wirtschaftsraumes Deutschland,
dessen Regeln auch für uns gelten.
Das Bruttoinlandprodukt Sachsen-Anhalts ist
im vergangenen Jahr real um 0,5 % gewachsen, das
der neuen Bundesländer ohne Berlin um 0,1 %, das der Bundesrepublik insgesamt
um 0,2 %. Die neuen Bundesländer entwickeln sich wieder langsamer als die
alten. Unsere besseren Wirtschaftsdaten sind durch ein Wachstum von 7,3 % im
verarbeitenden Gewerbe und von 8,4 % in der Ernährungsgüterwirtschaft bedingt
und werden neutralisiert durch erhebliche Rückgänge in der Bauwirtschaft und
auch im Dienstleistungsbereich. Die Arbeitslosenquote ist auf 21,7 % im Februar
d.J. gestiegen; bundesweit sind über 4,7 Mio. Menschen arbeitslos gemeldet. Die
tatsächliche Zahl soll erheblich größer sein. Im Januar dieses Jahres befanden
sich bei uns 11.720 geförderte Arbeitnehmer in SAM und 13008 geförderte Arbeitnehmer
in ABM. Im Fort- und Weiterbildungsbereich wurden 22.714 Teilnehmer gefördert.
Wenn jetzt die Finanzmittel dafür erheblich gekürzt werden sollten kann sich
jeder ausrechnen, was das bedeutet. Trotz angestrengter Investitionsbemühungen
geht die Zahl der Erwerbstätigen in den neuen Bundesländern jährlich um 1-2 % zurück;
in Sachsen-Anhalt am stärksten. In den Bereich der Chemischen Industrie wurden
von 1991 bis 2001 insgesamt 7,6 Milliarden ¿ investiert. Der Umsatz ist allein
von 2001 bis 2002 um mehr als 6 % gestiegen, die Zahl der Arbeitsplätze kaum
noch. Was wir auch tun und wie viel wir uns auch gegenseitig zumuten, um eine
bessere wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen, gegen einen bundesweiten
Trend werden wir es nicht schaffen.
Deshalb brauchen wir eine andere Politik in
Deutschland. Der deutsche Aktienmarkt hat in 2002 ca. 40 % seiner
Werthaltigkeit verloren. Im ersten Quartal 2003 zusätzlich noch einmal 21 %,
der übrige europäische Markt nur 15,6 %, der US-amerikanische 9,4 %. Einige
große deutsche Gesellschaften haben einen Aktienwert teilweise unterhalb des
Buchwertes und werden damit disponibel. Deutschland gilt für viele nicht mehr
als werthaltiger Wirtschaftsstandort. Gegen diesen Trend können wir in einem
kleinen neuen Bundesland mit knapp 3 % aller Einwohner Deutschlands keinen
grundlegenden wirtschaftlichen Aufschwung organisieren und keine nennenswerte
Zahl neuer Arbeitsplätze schaffen.
Wir brauchen grundlegende Reformen der
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir müssen die Lohnstückkosten und damit
unsere wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit entlasten von den zusätzlichen
Lasten unserer sozialen Sicherungssysteme. Die großen sozialen
Sicherungssysteme, auf die wir im internationalen Vergleich über einhundert
Jahre stolz sein konnten, wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei einer
völlig anderen demografischen Bevölkerungsschichtung als kapitalgedeckte
Versicherungskassen gegründet. Nach der Inflation Anfang der 20-er Jahre des
vorigen Jahrhunderts wurden daraus umlagefinanzierte Versicherungskassen. Die
Sozialgerichte erweiterten kontinuierlich die Leistungspflicht. Ein völlig
geändertes generatives Verhalten hat die Bevölkerungsstrukturen umgeschichtet.
Der Arbeitsmarkt ist durch die Automatisierungstechnologien völlig verändert
worden. Hohe Arbeitslosigkeit führt zu Einnahmeverlusten bei den Versicherungskassen
und im Steuersystem. Durch zusätzliche Lasten für die Rentenversicherung soll
der Arbeitsmarkt entlastet werden. Die gesetzliche Krankenversicherung
finanziert staatlich gewollte Sozialleistungen. In der Wirtschaft werden Investoren
als Anreiz zur Schaffung von Arbeitsplätzen mit Einnahmen aus der Lohnsteuer
von Arbeitnehmern gefördert. Damit soll der Nachteil ausgeglichen werden
gegenüber Investitionsstandorten mit niedrigeren Tarifen oder besserer
Infrastruktur. Keines der Systeme funktioniert mehr durch Eigenregulation und
bedarf der staatlichen Stützung aus dem Steuersystem. Das ist eine Belastung
für den Wirtschaftsstandort im internationalen Vergleich und auch auf
nationaler Ebene, weil die Wirtschaftskraft der neuen Länder unter diesen
Bedingungen nicht gegen den Trend aufgebaut werden kann. Ein Handwerker muss
selbst 3-4 Stunden arbeiten, um sich eine Stunde Arbeitszeit eines anderen
Handwerkers leisten zu können. Das einzige was dadurch wächst ist die
Schwarzarbeit. Eine Deregulierung des Arbeitsmarktes ist sicher keine Garantie
für eine Belebung der Wirtschaft, aber eine notwendige Voraussetzung.
Alle politischen Parteien sehen den riesigen
Reformbedarf auf Bundesebene. Von keiner gibt es bisher ein überzeugendes
Lösungskonzept. Gemeinsam sind wir verpflichtet, danach zu suchen und dafür
Mehrheiten zu finden. Natürlich ist die jeweilige Regierung verpflichtet, Vorschläge
vorzulegen. Dass unterschiedliche politische Parteien in einer Demokratie sich
über den besten Lösungsweg streiten, ist auch für uns inzwischen normal.
Wichtiger als jede Parteipolemik ist eine breite Überzeugung in der
Bevölkerung, dass es ohne grundlegende Reformen nicht weitergehen kann. Weder
auf der Ebene der Bundespolitik noch bei uns in Sachsen-Anhalt werden wir zu
notwendigen Reformen fähig sein, wenn jeder nur über Veränderungen bei anderen
nachzudenken bereit ist, ohne auch für den eigenen Verantwortungsbereich Alternativen
zuzulassen.
In der letzten Zeit wird eine gegenüber dem
Bundestag andere parteipolitische Mehrheit im Bundesrat als Reformhindernis in
Deutschland angesehen. Das ist schlicht falsch. Der Kompromiss bei den sog.
Hartz-Gesetzen zum Arbeitsmarkt beweist, dass es nicht so sein muss, wenn man
aufeinander zuzugehen bereit ist. Während der letzten Wahlperiode des
Bundestages haben von den Gesetzes-Initiativen der Bundesregierung 91 %
Gesetzeskraft erlangt, von den Gesetzes-Initiativen des Bundestages waren es
sogar 99 %. Dagegen sind von den Gesetzes-Initiativen des Bundesrates lediglich
23 % vom Bundestag beschlossen worden. Wenigstens diese statistische Erfolgswahrscheinlichkeit
von Bundesratsinitiativen sollte auch der Landtag kennen. Ein Problem ist die
zunehmende konkurrierende Gesetzgebung des Bundes, wodurch unnötig viele
Initiativen der Bundesregierung zustimmungspflichtig werden. Das
Verfassungsgebot gleichwertiger Lebensverhältnisse verlangt keinen staatlichen
Zentralismus und lässt unterschiedliche Regelungen in den Ländern zu. Nicht
sinnvoll erscheint mir der Vorschlag, ein Problem bundeseinheitlich zu regeln
und danach Länderkompetenz als Modellregion zulassen zu wollen. Wenn eine zur
Erprobung angebotene Möglichkeit nicht überzeugt, wird es niemand tun und wenn
sie überzeugend ist, werden es alle tun wollen und dann notfalls beim
Verfassungsgericht einklagen. Trotzdem haben wir uns als eine solche Region
angeboten, weil wir zusätzliche Freiräume brauchen. In jedem Fall käme dann
auch auf den Landtag eine größere Verantwortung zu, weil ausgesetzte
Bundeskompetenz dann durch den Landesgesetzgeber ausgefüllt werden müsste. Eine
Föderalismuskonferenz zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung
erarbeitet gegenwärtig Vorschläge dafür. Ein wichtiges Problem wird eine Reform
der Mischfinanzierungstatbestände sein, die entflochten werden sollen. In
Sachsen-Anhalt werden durch diese Mischfinanzierungen ca. 42 % aller
Investitionen festgelegt. Bis Ende dieses Jahres sollen dazu Reformen
erarbeitet werden. Bei manchen Mischfinanzierungen würden schon kleinste
Definitionsänderungen für uns größere Entscheidungsfreiheit bedeuten. Mit den
Finanzmitteln für Gemeinschaftsaufgaben nach Artikel 104 GG können Wirtschaftsbetriebe
und wirtschaftsnahe Strukturen gefördert werden. Die Sanierung einer
Berufsschule ist damit möglich, nicht aber Reparaturen in einer Sekundarschule.
Ein Konsens darüber, dass diese auch zur Entwicklung eines Wirtschaftsstandortes
gehören, würde uns viel helfen. In der Diskussion ist die Länderkompetenz für
die ausschließlichen Ländersteuern. Zunächst hat das dazu geführt, dass der
Vorschlag leistungsfeindlicher Neidsteuern wenigstens von den
Verantwortungsträgern nicht weiter verfolgt wird. Das würde zwangsläufig auch
zu einer Reform des innerdeutschen Finanzausgleichsystems führen müssen. Eine
Steuerreform ist sicher notwendig. Bei den gegenwärtig großen Unterschieden der
Steuerkraft einzelner Länder müssen wir sehr warnen vor dem Begriff eines Wettbewerbsföderalismus,
solange nicht Chancengleichheit beim Start organisierbar ist.
Überzeugender scheint mir ein anderer Weg.
Innerhalb der Europäischen Union ist es längst üblich, für bestimmte Regionen
in Abhängigkeit von der regionalen Wirtschaftskraft abweichende gesetzliche
Vorschriften zuzulassen. Auch innerhalb Deutschlands würde das nicht dem
Grundgesetz widersprechen. Wir erwarten keine gesetzlichen Sonderregelungen für
die neuen Bundesländer. Wir halten aber bundesweit geltende Gesetze für möglich
mit Sondervorschriften für Regionen mit besonders hoher Arbeitslosigkeit oder
besonders niedrigem Bruttoinlandprodukt pro Einwohner. Als ersten Versuch
dieser Art wird die Sächsische Staatsregierung morgen einen Gesetzentwurf in
den Bundesrat einbringen, der eine solche Regelung enthält. In einem Entwurf
für ein Arbeitsmarkthemmnisseabbaugesetz wird vorgeschlagen, dass eine Reihe
von arbeitsrechtlichen Vorschriften in den Ländern ausgesetzt oder modifiziert
werden sollen, deren Arbeitslosigkeit an einem Stichtag 50 % höher ist als der
Bundesdurchschnitt. Wir werden dem Entwurf nicht beitreten, weil er auch
Vorschläge enthält, denen ich mich in der vorläufigen Fassung nicht anschließen
könnte. Wir sind aber sehr gespannt darauf wie der Bundestag auf den Vorschlag
zur Regionalisierung von Rechtsnormen eingehen wird. Hier sehen wir
Reformmöglichkeiten einfach durch die Übernahme europäischer Verwaltungspraktiken.
Bevor wir uns jenen Reformen zuwenden, für
die wir in unserem Land zuständig und verantwortlich sind, ist es hilfreich,
noch auf notwendige Reformen innerhalb der EU hinzuweisen. Zurzeit bereitet ein
europäischer Konvent eine europäische Verfassung vor.
Nur 74 Regionen in 8 von 15 Mitgliedsstaaten
der europäischen Union haben Selbstvertretungskörperschaften mit Gesetzgebungskompetenz.
Deren Einordnung in die legislativen und exekutiven Hierarchien der
europäischen Union ist noch nicht ausdiskutiert. Viele Staaten bereiten
Reformen vor und orientieren sich dabei an den Strukturen der Bundesrepublik.
Wir unsererseits drängen auf Reformen der Förderpolitik. Allein durch die Veränderung
des 75 %-Bruttoinlandprodukt-Grenzwertes fallen zukünftig 18 Regionen aus den
Förderregionen I-Konditionen, ohne dass sich ihre Wirtschaftskraft verbessert
hat. Wir suchen jetzt gemeinsam nach Reformen zur Neutralisierung des
statistischen Kohäsionseffektes. Von den 21 Mio. davon betroffenen EU-Bürgern
leben mehr als die Hälfte in den neuen Bundesländern Deutschlands. Für unsere
weitere Entwicklung werden diese Reformen von großer Bedeutung sein. Das ist
der Hintergrund, vor dem wir die Reformen in unserem Land organisieren müssen.
Das sicher geringer werdende Fördervolumen aus der EU und der degressive
Zuschuss aus dem Solidarpakt müssen durch steigende eigene Steuereinnahmen
kompensiert werden, wenn wir das gegenwärtige Ausgabenvolumen wenigsten gleich
hoch halten wollen. Dazu sind noch viele Veränderungen notwendig.
Dabei dürfen Reformen der Selbstverwaltung
niemals zum Selbstzweck werden. Sie sollen helfen unser Hauptziel zu erreichen,
nämlich die Wirtschaftskraft zu verbessern und Arbeitsplätze im Bereich der
Wertschöpfung zu schaffen. Deshalb gilt der Grundsatz: so viel Reform wie
nötig, aber so wenig Durcheinander wie möglich. Unser wichtigstes Reformziel in
dieser Legislaturperiode muss eine Verwaltungsreform sein, mit dem Ziel,
effizienter und transparenter Verwaltungsstrukturen unter Berücksichtigung der
unterschiedlichen Wirtschaftskraft der Regionen innerhalb unseres Landes.
Der Landtag hat dazu in früheren
Legislaturperioden schon eine Reihe von Beschlüssen gefasst. Sie werden uns
Orientierung sein, ohne dass wir uns daran kritiklos binden. Im Januar 2002
wurde ein Grundsatzbeschluss zur Kommunalisierung von Verwaltungsaufgaben
gefasst. Bereits damals habe ich in der Diskussion darauf hingewiesen, dass wir
nicht zuerst heroische Beschlüsse fassen sollten und danach erst ausrechnen,
was es uns kostet und was effektiver sein würde. Mir ist damals entgegen
gehalten worden, dass Bürgernähe ein Wert an sich sei und dass das natürlich auch
etwas kosten wird. Die finanzielle Situation der Kommunen und des Landes verbieten
uns Reformschritte, die zu noch höheren Kosten führen könnten. Wir werden deshalb
erst rechnen und dann neu entscheiden.
Nach Meinung des Städte- und Gemeindebundes
hätte jede Aufgabenverlagerung seit 1995 die kommunalen Defizite ständig weiter
erhöht.
Die Finanzsituation der Kommunen ist
grundsätzlich reformbedürftig. Auf Bundesebene wird eine dazu eingesetzte
Kommission noch in diesem Jahr Vorschläge dazu erarbeiten. Immer wieder
vorgeschlagen wird eine Zusammenführung der Sozialhilfe und der
Arbeitslosenhilfe. Das mag richtig sein. Bisher diskutiert wird, diese
gemeinsame Leistung dann für Arbeitsfähige von der Arbeitsverwaltung und für
nicht mehr Arbeitsfähige von der Kommune auszuzahlen. Bei der hohen
Arbeitslosigkeit, den schlechten Vermittlungschancen und der Altersstruktur der
Betroffenen wäre das für unsere Kommunen mit ihrem weit unterdurchschnittlichen
Gewerbesteueraufkommen eine völlig inakzeptable Lösung. Hier müssen wir
Vertreter der neuen Bundesländer darauf achten, dass nicht die Proportionen der
alten Bundesländer zum Entscheidungsmaßstab werden. Noch bevor die
Rahmengesetze des Bundes feststehen werden wir innerhalb des Landes unsere
Beteiligungsquoten neu festlegen. So weit wie möglich und an der Einwohnerzahl
orientiert verteilungsgerecht sollen einzelne Fördertitel in den allgemeinen
Finanzausgleich umgesetzt werden. Das wird weniger sein als die
Kommunalvertreter wünschen, aber sicher mehr als bisher. Ich habe Verständnis
für den Wunsch der kommunalen Spitzenverbände nach einer verlässlichen Verbundquote
und stabilen Strukturen. Nur vor diesem Hintergrund wird es Konsens auch für
die Kommunalisierung von Verwaltungsfunktionen geben können. Die Umsetzungsprobleme
sind noch nicht alle geklärt und bleiben eine Aufgabe der Exekutive. Das alles
wird länger dauern als ich erhofft und vermutet hatte.
Ein noch kontrovers diskutiertes Thema sind
Probleme der Aufgabenzuordnung im Rahmen einer interkommunalen Verwaltungsreform.
Die Meinungsbreite ist groß. Auch hier sollten wir zuerst rechnen und dann
entscheiden. Für die Trägerschaft bestimmter kommunaler Aufgaben ist eine
Mindesteinwohnerzahl unerlässlich. Sowohl das Verlagern von Zuständigkeiten als
auch das Ändern von Strukturen muss möglich sein. Am Ende müssen Strukturen
stehen, die eine möglichst effiziente Verwaltungsorganisation auch auf kommunaler
Ebene ermöglichen. Selbst bei großem Respekt vor gemeindlicher Selbstverwaltung
wäre es wirtschaftlich nicht vertretbar, auf der kommunalen Ebene parallele
Verwaltungsstrukturen vorzuhalten, die sich die zu erfüllenden Aufgaben teilen.
In der Praxis hat es sich bewährt, für einige Aufgaben des eigenen
Wirkungskreises eine koordinierte Aufgabenwahrnehmung aller Mitgliedsgemeinden
in der Verwaltungsgemeinschaft zu organisieren. Vertreter aller kommunaler
Spitzenverbände erwarten von uns solche Reformen. Für die notwendige Ordnung
dieser Probleme wird die Landesregierung in systematischer Reihenfolge dem
Gesetzgeber Entwürfe zur Entscheidung vorlegen.
Immer wieder neu werden wir dann mit dem
Vorwurf konfrontiert, eine Verwaltungsreform müsste wegen der unterschiedlichen
Einwohnerzahlen mit einer gleichzeitigen kommunalen Gebietsreform durchgeführt
werden. Wir halten das für falsch.
Noch nie hat ein Bundesland zwei so
einschneidende Reformen gleichzeitig durchgeführt. Unsere wichtigste Aufgabe
ist die Entwicklung des Wirtschaftsstandortes und nicht die Umorganisation der
Selbstverwaltung. Das gilt für alle Verwaltungsebenen. Nur zur Einordnung
dieses Problems einige Vergleichszahlen aus anderen Bereichen:
-
Nach der EU-Erweiterung
wird der größte Staat innerhalb der Union ca. 205-mal größer sein als der
Kleinste. Alle Probleme werden durch Instrumente einer Funktional- und Verwaltungsreform
gelöst und niemand wird Gebietsreformen vorschlagen.
-
Innerhalb der
Bundesrepublik hat das größte Land fast 30-mal mehr Einwohner als das Kleinste.
Bisher konnten alle Probleme durch Funktional- und Verwaltungsreformen gelöst
werden. Seit fünfzig Jahren werden immer wieder einmal Gebietsreformen vorgeschlagen,
für die es bisher keine Mehrheiten gab. Unsere gegenwärtigen Probleme würden
wir dadurch nicht lösen.
-
Innerhalb
Sachsen-Anhalts hat der größte Kreis etwa 2-mal mehr Einwohner als der Kleinste.
In anderen Ländern ist diese Spreizung noch viel größer ohne dass sie darin ein
Problem sehen. Unsere gegenwärtigen Defizite würden wir durch gesetzlich
erzwungene Gebietsreformen nicht lösen, wohl aber vorübergehend erschweren.
Deshalb werden wir zunächst schrittweise und
mit zielstrebiger Konsequenz die Verwaltungsreform durchführen und danach über
die nächsten Notwendigkeiten sprechen. Ich habe bereits in meiner
Regierungserklärung darauf hingewiesen, dass die Durchführung der
Verwaltungsreform Auswirkungen auf die gegenwärtigen kommunalen
Gebietsstrukturen haben wird. Für die Entwicklung unseres Landes sind
gegenwärtig andere Reformen wichtiger.
Wir haben begonnen mit einer Bildungsreform,
die weit mehr bedeutet als ein Abitur nach 12 Jahren. Inzwischen ist überall
deutlich, dass eine Reform der Inhalte und Strukturen des gesamten
Bildungswesens notwendig ist. Wir werden beginnen mit einer Reform unserer
Strukturen im Hochschulwesen. Die Universität Mannheim in Baden-Württemberg ist
kürzlich vom Zentrum für Hochschulentwicklung ausgezeichnet worden, weil sie zu
Gunsten eines eigenen schärferen Profils zur Schließung einzelner Fächer bereit
war, um freie Ressourcen zur strategischen Entwicklung zu gewinnen. Das
brauchen auch unsere Hochschulen. Wir möchten, dass sie durch innere
Profilierung und abgestimmte Spezialisierung wettbewerbsfähige und damit
zukunftsfähige Strukturen finden, die auch langfristig finanzierbar bleiben.
Wir prüfen die Übernahme eines Vorschlages aus Nordrhein-Westfalen, in einem
Wissenschaftszentrum des Landes alle Servicefunktionen für Universitäten und
Hochschulen zu bündeln. Das würde die einzelnen Einrichtungen entlasten und das
Land müsste diese Aufgabenerledigung nur einmal bezahlen. Mit einer Reform der
Polizeistrukturen wurde bereits begonnen. Wir denken zur Zeit nach über eine
Reformierung unserer Sparkassen, die wir als wettbewerbsfähige
Finanzdienstleister für die Entwicklung unserer mittelständischen
Wirtschaftsstrukturen dringend benötigen. Nicht nur bei uns, aber eben auch bei
uns werden eine Reihe von Strukturreformen notwendig sein zur Anpassung an die
demografische Entwicklung.
Sinkende Schülerzahlen werden von der
Grundschule bis zum Gymnasium durchlaufend eine geringere Anzahl von Lehrern
und Schulen nötig machen. Die Schwierigkeiten konkreter
Anpassungsentscheidungen sind bekannt. Ein absolut und relativ höherer Anteil
älterer Mitbürger verlangt nicht nur Reformen der Altersvorsorge, sondern auch
Strukturentscheidungen für die ambulante und stationäre Betreuung. Der
bisherige Bevölkerungsrückgang hat dazu geführt, dass etwa die Hälfte der
Kreise jetzt schon weniger Einwohner haben als unserem Leitbild aus der ersten
Legislaturperiode entsprechen würde. Die Statistiker rechnen uns vor, wie diese
Entwicklung weiter gehen könnte und aus demografischen Gründen auch weiter
gehen wird. Die Wanderungsbilanz von und nach Sachsen-Anhalt ist immer noch
negativ. Die Bevölkerungszahl des Landes sinkt jährlich um ca. 0,9 %. Diese
Entwicklung kann kurzfristig nicht aufgehalten werden. Nur durch eine
systematische Verbesserung der Lebenschancen im Land können wir gegensteuern.
Wenn wir jetzt die Neuformierung von
Verwaltungsgemeinschaften über bisherige Kreisgrenzen hinweg bewusst zulassen,
kommt eine Entwicklung in Gang, deren Eigendynamik vorhersehbar ist. Wir werden
sie nicht bremsen sondern steuern. Manches hat sich völlig freiwillig und
unbemerkt vom Rest der Welt entwickelt. Von der kleinen Stadt Jessen wurden in
den letzten zehn Jahren 14 Kleinstgemeinden eingemeindet, so dass sie jetzt die
flächenmäßig größte Stadt Sachsen-Anhalts geworden ist. Das ist für mich ein
Beispiel weitsichtiger Kommunalpolitik unter Respektierung subsidiärer Entscheidungskompetenz.
Inwieweit andere diskutierte Gebietsänderungen vom Gesetzgeber Entscheidungen
verlangen werden, bleibt abzuwarten. Dass eine Verringerung der Anzahl von
Verwaltungseinheiten wenigstens mittelfristig auch zu Personaleinsparung führt
ist unstrittig.
Ich bin sicher, dass zu gegebener Zeit auch
eine solche Reform notwendig werden wird!
Die modernen, internetbasierten
Kommunikationstechnologien lassen manche dieser Diskussionen jetzt schon als
antiquiert erscheinen. Als erstes Bundesland hat Baden-Württemberg ein
elektronisches Bürgerdienste-Portal aufgebaut. Das Landesportal ist für alle
Kommunen geöffnet und bietet Service für fast alle Verwaltungsfunktionen. Die
Bürger müssen kaum noch zu einem Amt. Beim Aufbau eines Landesverwaltungsamtes
wollen wir Entscheidungsprozesse und Kompetenz zentralisieren, nicht unbedingt
die Verwaltungsarbeit. Moderne Systemanbieter auch aus Sachsen-Anhalt arbeiten
an Systemlösungen für dezentrale Verwaltungen in anderen Bundesländern. Da
müssen auch wir uns aus den Denkvorstellungen des vergangenen Jahrhunderts befreien.
Wir wollen Sachsen-Anhalt nicht für gestern aufbauen, auch nicht nur für heute,
sondern für morgen und übermorgen.
Es war mir wichtig vorzutragen, dass in der
nächsten Zeit auf allen Ebenen ¿ vom Konvent der Europäischen Union über
Bundestag und Landtage bis zu unseren Kreis-, Stadt- und Ortsräten eine Fülle
von Reformschritten zu entscheiden sein werden, die alle für unsere zukünftige
Entwicklung notwendig sind. Das wird im Einzelfall von uns verlangen, uns
selbst mit zu bewegen und uns aus der Befangenheit in bisherigen Denknormen zu
befreien. Um die Zukunft zu gestalten, wird es nicht genügen, gegenwärtige
Strukturen bewahren zu wollen. Dazu bedarf es zwischen Regierung und
Gesetzgeber auch einer Übereinkunft über die Reihenfolge der einzelnen Schritte
und gemeinsamer Entscheidungsmaximen. Alle Entscheidungen zu den Strukturen der
Selbstverwaltung und den Reformen der Risikoabsicherung müssen getroffen werden
unter den Sachzwängen der Entwicklung und Gestaltung des Wirtschaftsstandortes
Sachsen-Anhalt. Nur wenn es uns gelingt, unser Land zu einem werthaltigen
Wirtschaftsstandort zu entwickeln, einem Land, in das auch andere sich
einbringen weil sie sehen wie entschlossen wir uns selbst einbringen, nur dann
werden wir im Wettbewerb der Regionen eine Chance haben.
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